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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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Erkenntnis traf mich wie ein Schlag.
    Ich blieb nicht bei ihnen am Fluss, und als ich am nächsten Morgen mit frischen Semmeln wieder hinauskam, war das erste, was ich erfuhr, dass sie in der Nacht Besuch gehabt hatten. Sie schliefen noch, die drei Schlafsäcke auf der Veranda ausgebreitet, obwohl der Boden feucht sein musste, und die Sonne stand schon am Himmel und würde nicht mehr lange brauchen, bis sie ihre Köpfe erreicht hätte. Mir fiel sofort auf, dass Judith nicht in der Mitte lag, aber ich machte mir keine Gedanken darüber und fing an, die Bierflaschen zusammenzutragen, die ich verstreut um die Asche des niedergebrannten Feuers fand, in der ein paar noch kaum verkohlte Kloben lagen, aber keine Glut mehr war. Ich entdeckte eine Jacke, die keinem von ihnen gehörte, und hängte sie an einem der Garderoben-Nägel an der hinteren Wand der Mühle auf, nachdem ich vergeblich die Taschen durchsucht hatte. Dann setzte ich mich, an einen Baumstamm gelehnt, so hin, dass ich ihre Gesichter im Blick behalten konnte, und wartete, bis sie wach wurden.
    Daniel erzählte mir, was geschehen war, kaum dass er die Augen aufgeschlagen hatte, und ich versuche, das Gespräch wiederzugeben, wie ich es in Erinnerung habe. Was er sagte, kam so unvermittelt, dass ich es hinnahm, als wäre es das Normalste auf der Welt, und jede Vermittlung würde es nur verfälschen. Für mich war es ein Beweis mehr, dass einen auch eine Folge von lauter scheinbar rationalen Sätzen in eine irrationale Welt führen konnte, und ich weiß noch, dass er genau das auszukosten schien.
    »Du wirst nicht glauben, wer hier war. Willst du raten, oder soll ich es dir gleich sagen? Du kannst auf jeden Fall froh sein, dass du nichts davon miterlebt hast.«
    Ich tippte auf die Polizei, weil sie zu laut gewesen seien oder weil jemand sie wegen des Feuers angezeigt habe, aber er schüttelte den Kopf und lachte theatralisch.
    »Es waren die Sektenleute.«
    Ich wusste sofort, wen er meinte.
    »Die Amerikaner, die wieder im Dorf sind?«
    »Wir haben sie in der Dunkelheit zwischen den Bäumen schon lange gehört und dann erst gesehen«, sagte er und schien sich im selben Augenblick in seiner Erinnerung zu verlieren. »Es ist eine richtige Prozession gewesen, wie sie betend den Fluss heruntergekommen sind.«
    »Aber was haben sie hier draußen gewollt?«
    »Das frage ich mich auch. Angeblich ist ein Mädchen von ihnen verschwunden, und sie sind mit Fackeln ausgeschwärmt, um nach ihm zu suchen. Ich habe aber meine Zweifel, ob das stimmt.«
    Er warf einen Blick auf Christoph und Judith, wie um zu kontrollieren, ob sie wirklich noch schliefen. Sie lagen einander zugewandt in ihren Schlafsäcken, und er neigte seinen Kopf zur Seite und betrachtete sie mit aufgesetztem Wohlwollen. Dann legte er einen Zeigefinger auf seine Lippen, und als er flüsternd weitersprach, wusste ich nicht, ob sie etwas nicht hören sollten oder ob er nur achtgab, sie nicht zu wecken.
    »Sie haben das Unterholz am Ufer durchkämmt und sich danach zu uns ans Feuer gesellt, aber etwas daran ist mir merkwürdig erschienen«, sagte er. »Ich bin sicher, dass das alles nur ein Vorwand war und sie von Anfang an aus einem anderen Grund gekommen sind, oder sie wären nicht so seelenruhig dagesessen.«
    Er beugte sich vor, und ich wich im selben Augenblick zurück, um den verschwörerischen Ton zu unterlaufen, den er plötzlich anschlug.
    »Du kennst doch die Geschichten.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Man hört so einiges.«
    Dabei sah ich ihn nicht an.
    »Willst du damit sagen, sie haben euch retten wollen?«
    Er antwortete nicht, und ich fragte noch einmal. Er stand auf, ging zum Feuer und stocherte in der Asche, als könnte er es erneut zum Brennen bringen. Dann setzte er sich wieder, allerdings weiter von mir weg, und ich spürte seine Verlegenheit.
    »Am Ende ist es doch immer dasselbe mit ihnen«, sagte er unentschieden, was er mir anvertrauen solle und was nicht. »Wahrscheinlich können sie nicht anders.«

2
    Die Bezeichnung hatte sich eingebürgert, seit sie zwei Jahre davor zum ersten Mal im Dorf aufgetaucht waren. Sie wurden von Anfang an »die Sektenleute« genannt, und das zeigte, was für ein reserviertes Verhältnis die Leute zu ihnen hatten. Es machte sich kaum jemand die Mühe, herauszufinden, wer genau sie sein mochten, und wenn über sie gesprochen wurde, konnte man am ehesten hören, dass von den Verrückten die Rede war, die den Hof am Dorfrand gemietet hätten und

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