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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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rieseln ließ. Ich stand in der Nähe und bemühte mich vergeblich, den Titel zu erkennen, und auch wenn ich nicht so weit gehen würde wie Daniel, der behauptet, ich hätte in meiner Zeit in Istanbul Roberts Bücher nur gelesen, weil ich dieses Buch nicht lesen konnte, hätte ich natürlich gern gewusst, was so wichtig war, dass sie es ihm in den Tod mitgab. Als ich ihr die Hand drückte, überlegte ich, sie danach zu fragen, tat es dann aber doch nicht, und in dem Moment sagte sie etwas, das ich nicht richtig verstand, entweder, es sei seine Wahl gewesen, oder, er habe keine Wahl gehabt. In Daniels Darstellung neigte sie dabei ihren Kopf und sah mich mit den Augen einer ein für alle Mal Geschlagenen von unten her an, aber mir kommt es eher vor wie die Extravaganz aus einem Film, mit der er die Szene ausgeschmückt hat. Es war überhaupt sein Bedürfnis nach Vollständigkeit, was ihn immer wieder zu weit gehen ließ, wenn er eine Chronologie von Roberts letztem Tag erstellte und ihm Gedanken eingab, die er in den Minuten und Sekunden gedacht haben soll, bevor er sich den Lauf des Gewehrs in den Mund steckte und abdrückte. Demnach endete sein Leben mit Erinnerungen an schöne Stunden am Mississippi, an eine Fahrt von St. Louis nach Memphis samt einem Sonnenuntergang irgendwo auf der Strecke und, was am schlimmsten ist, mit Lebensweisheiten und Maximen, die ich nicht wiederholen möchte, und der albernen Frage, was die Frauen wirklich wollen, den Augenblick der Liebe, auch wenn er nicht festzuhalten sei, oder das schale Glück der Dauer.
    Ich kann nicht sagen, inwieweit Daniel da von seinen eigenen Nöten mit Judith sprach, aber wenn ich an ihre Besuche draußen am Fluss dachte, lag es für mich nahe, eine Parallele zu ziehen. Sie kam zweimal zu uns heraus, im Spätsommer, lange nachdem sie aus Italien zurückgekehrt war, und ich erinnere mich an beide Male genau. Das eine Mal war Herr Bleichert gerade erfolglos abgezogen und die Stimmung, die er verbreitet hatte, noch gegenwärtig, eine Mischung aus unausgesprochenen Vorwürfen und einer Hoffnung gegen alle Hoffnung, wie sie nur ein Priester haben kann. Das andere Mal waren die Jungen in den Wald gegangen, und ich hatte eine halbe Stunde mit ihr allein, in der sie mir ironisch Fragen stellte, ob der Feldgeistliche wieder seine Fühler nach uns ausgestreckt habe und was wir mit dem Zirkus eigentlich aufführten, ein Ausbildungslager für Einsiedler, oder ob wir nur die Zeit totschlügen und nicht erwachsen werden wollten. Es muss spät am Nachmittag oder früh am Abend gewesen sein, weil sie tagsüber arbeitete, und sie schaute sich um, als wäre sie nicht sicher, worauf sie sich da eingelassen hatte. Sie war mit dem Fahrrad gekommen, und die Haut auf ihren Oberarmen und ihren Schenkeln glänzte vom Schweiß, während sie, die Hände in den Taschen ihrer abgeschnittenen Jeans, die Schultern vorgebeugt, von einem Bein auf das andere trat. Auffallend burschikos, wie sie war, hatte sie sich auch noch die Haare schneiden lassen, und als ich sie später mit den Jungen gegen die flach stehende Sonne am Ufer entlanggehen sah, waren die Silhouetten nicht voneinander zu unterscheiden. Sie muss schon gewusst haben, dass sie schwanger war, und vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich nicht nur einmal dachte, sie sei erschienen, um sich von den beiden zu verabschieden. Ich schaute ihr zu, wie sie mit ihnen herumalberte, und allein dass das jetzt von ihr ausging, dass sie ihnen auf die Arme schlug, dass sie vor ihnen herlief und sie aufforderte, nicht so langweilig zu sein, gab ihr etwas Angestrengtes, wie Erwachsene es manchmal haben, die sich an den Spielen von Kindern beteiligen. Dann wieder wirkte sie abwesend, und wenn sie die beiden im nächsten Augenblick mit offenem Bedauern ansah, hatte ich das Gefühl, dass es genausogut ihnen wie ihr selbst gelten konnte. Sie ließ sich die Arbeit an der Mühle zeigen, ging mit ihnen auf die Schotterbank hinaus und schichtete an deren Spitze einen Steinmann als Signalpunkt für die Rafter auf, von denen an diesem Tag ganze Schwärme unterwegs zu sein schienen, und sie war es auch, die den Vorschlag machte, über Nacht am Fluss zu bleiben. Dabei war unausgesprochen klar, dass sie sich das letzte Mal in diese Welt begab, und als sie anfing, Holz für ein Feuer zu sammeln, halfen ihr die beiden zuerst nicht, und sie musste sie antreiben, sie würden sich doch nicht ausgerechnet jetzt als zaudernde Schwächlinge erweisen und

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