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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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zu Hause würden noch eine Zeitlang glauben, er sei am Leben, würden vielleicht nur ein paar Stunden, vielleicht aber auch Tage weitermachen, als wäre nichts geschehen, und dann erst alles erfahren. Ich gab nichts darauf, hielt es jedenfalls nicht für ein Alarmsignal, eher für eine seiner literarischen Phantasien, ein Hirngespinst, um sich interessant zu machen, und erst in letzter Zeit ertappe ich mich bei vergleichbaren Ideen, vergleichbaren Spielereien bar jeder Logik, wenn ich auf dem Friedhof das Grab der Großeltern besuche und ganz in seiner Nähe die Gräber von meinen Onkeln und Tanten sehe, alle innerhalb von nur ein paar Quadratmetern, alle so wohlgeordnet, dass es zum Schreien ist. Dann denke ich, sie hätten vielleicht doch auswandern sollen, es wäre eine zweite Chance gewesen, und was auch immer sie erwartet hätte, welches Leben in Mühsal, wie ich natürlich längst weiß, was auch immer in Brasilien sonst noch auf sie zugekommen wäre, außer der Erkenntnis über die falschen Versprechungen von einem Paradies auf Erden, so viel schlechter hätte es vom Ende her betrachtet nicht sein können, und wenn schon sonst nichts, würde es zumindest an diesem Ort diese Grabsteine und diese Kreuze nicht geben.
    Ich erinnere mich, dass von der Kirche die Glocken zu hören waren, als ich aus dem Haus trat, und dass die beiden Mädchen, ihre Schläger in der Hand, dastanden und warteten, bis es vorbei war. Ich habe das Glockenläuten schon als Kind nicht gemocht, das Gewusel, das es auslöste, und die dann folgende Reglosigkeit, den Stillstand mit dem letzten Schlag, an den Sonntagen im Dorf, der mir eine Vorstellung vom Grauen der Ewigkeit gab, besonders im Sommer, wenn alles zum Erliegen kam, als gäbe es kein Leben mehr auf der Welt, und sich in der Früh schon über den Feldern eine schwere Hitze ankündigte, und ich wurde jetzt sofort wieder davon gepackt. Nein, es war nicht Brasilien, nicht eine dem Urwald in jahrelanger Arbeit abgetrotzte Einöde mit Giftschlangen und Fiebersümpfen und vielleicht sogar feindlichen Indianern, aber ich brauchte das Glockenläuten nur zu hören, und es war wieder die Welt der Großmutter, mit ihrem Malzkaffee am Morgen und der Aufschnittwurst, die sie in viel zu großen Mengen im Geschäft einkaufen ging, wenn wir wochenends bei ihr zu Besuch waren, mit dem verschlossenen Zimmer neben der Treppe, in dem sowohl Robert als auch ich als auch all unsere Cousins und Cousinen geboren wurden und in dem später der Onkel und die Tante schliefen, unter einem riesigen Abendmahlsbild, mit dem sanft an der Schulter des todgeweihten Jesus schlummernden Johannes, den ich um seinen Schlaf und um seine Nähe beneidete. Es hatte immer sechs oder sieben Kühe gegeben, ein paar Schweine und ein paar Hühner, und wenn es mir gelang, dem Kirchgang und der Messe zu entkommen, oder sonst danach, hatte ich mich zu ihnen gestohlen, noch voll von den Geschichten der Großmutter, Geschichten von Todesfällen und tödlichen Unfällen auf der vorbeiführenden Straße, vermischt mit Heiligenlegenden und dem Klatsch der Nachbarschaft, und es war immer ihre Gelassenheit gewesen, die Gelassenheit der Tiere, die erst die Todesangst wieder vertrieb, die das Glockenläuten bei mir heraufbeschwor. Ich hätte die Namen der Kühe noch auswendig aufsagen können, und beim Gedanken daran fiel mir wieder ein, wie Robert einmal erzählt hat, er würde ihnen manchmal zum Spaß die Prädikate aus der Marienanbetung geben, würde sie »du Liebliche« nennen, »du Trost- und Schmerzensreiche«, »du Jungfrau voller Güte«, »du Himmelsmutter« oder »du Gebenedeite«, wenn er hinter ihnen im Stall stand und sich vorstellte, die Erwachsenen kehrten nicht mehr zurück und er wäre allein mit ihnen auf der Welt. Ein Hund schlug irgendwo an und verstummte sofort wieder, und ich nahm mit Erleichterung das Rauschen des Verkehrs wahr, das von der Autobahn kam, als hätte es gerade erst eingesetzt, und mich aus meinen Gedanken riss. Die beiden Mädchen beobachteten mich, wie ich auf das Gartentor zuging, und ich war noch nicht in mein Auto gestiegen, als das Hin und Her ihres Spiels wieder begann, das ich damals mit Erleichterung aufnahm und das mir jetzt wie Hohn vorkommt.
    Ich wusste da noch nicht, dass der Sommer vorbei war. Die beiden Jungen kamen an dem Tag nicht hinaus an den Fluss, ich wartete vergeblich auf sie, aber ich erfuhr erst später, dass der Reverend sie zu einem Ausflug eingeladen hatte und sie am selben

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