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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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die Schüler auf den rechten Weg zu leiten, und hätte mit einem selbstverständlich maliziösen Lachen gesagt, dass ich ihnen die falschen Bücher zu lesen gab und mit den Dingen, die ich ihnen erzählte, eine Saat legte, die nur in genug Köpfen aufzugehen brauchte, damit die Welt in die Luft flog.
    Ich weiß, wie lächerlich solche Allmachtsanfälle eines Ohnmächtigen sind, und deshalb war am Sonntag nachmittag, als ich schließlich doch beim Direktor zu Hause anrief, auch nichts davon geblieben. Die Vorstellung, mit ihm außerhalb der Schule über alles zu sprechen, nahm mir das Gefühl, ich müsse mich bei ihm zum Rapport melden, und natürlich pochte ich damit auch auf unsere alte Freundschaft und die Sorge, mit der er sich seit Roberts Tod um mich kümmerte. Außerdem hatte ich mich den ganzen Samstag und den Sonntag vormittag mit der Geschichte beschäftigt und sie bis zu einem Punkt getrieben, wo sie ins Lächerliche kippte. Es waren lauter Ingredienzen, die für sich nicht viel ergaben, aber ich machte mir den Spaß, sie aufzublasen und zu einem kruden Plot zusammenzurühren. Darin gab es einen endzeitlichen Prediger, der im ganzen Land die Absturzstellen von amerikanischen Bombern im Zweiten Weltkrieg aufsuchte und dort das Nahen des Jüngsten Gerichts verkündete. Es gab eine Gruppe, die sich nach Camus’ Stück »Die Gerechten« getauft hatte und Jahre später genau an den Orten mit Bombendrohungen in Erscheinung trat, die sie in biblische Formulierungen kleidete. Sie hatte einen asketisch lebenden, charismatischen Anführer, der sich Jesus nannte, und es musste natürlich eine Verbindung zu Israel geben, weil sich im Heiligen Land die messianischen Prophezeiungen erfüllen. Ich kümmerte mich nicht darum, wie wenig das alles mit dem Ausgangspunkt zu tun hatte, und je mehr ich mich von den Fakten entfernte und je gewagter und je haarsträubender meine Konstruktion wurde, um so sicherer war ich, in einem Roman müsse es das alles längst geben. So lange walzte ich es aus, bis ich kein Gefühl mehr für Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit hatte, kein Einschätzungsvermögen, was möglich war und was nicht. Es endete damit, dass ich alle Kategorien durcheinanderbrachte und fast so weit gegangen wäre, allein die Tatsache, dass etwas wie schlecht erfunden klang, für ein starkes Indiz dafür zu halten, dass es mitten aus der Wirklichkeit stammte.
    Der Direktor war nicht zu Hause, und so erfuhr ich durch seine Frau von dem Brief, der am Samstag bei der Zeitung eingetroffen war. Er enthielt angeblich ein Blatt, auf dem, wieder aus Buchstaben unterschiedlicher Größe zusammengeklebt, »Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida!« stand, und ein weiteres Blatt mit einer detaillierten Anleitung, wie man eine Bombe baut. Die Frau des Direktors sagte, ihr Mann habe versucht, mich deswegen zu erreichen, und sei gerade weggegangen, müsse aber jeden Augenblick zurückkommen, und dass sie ihn dabei wieder Karl nannte, verfing zum ersten Mal nicht mehr bei mir.
    »Er sagt, dass der Bub dahinterstecken muss, der damals mit dir draußen am Fluss war«, sagte sie. »Ich erinnere mich noch, wie schwärmerisch du von ihm gesprochen hast.«
    Ich war den ganzen Samstag nicht aus dem Haus gewesen und hatte weder ferngesehen noch Radio gehört. Das Telefon hatte ein paar Mal geklingelt, aber ich war nicht drangegangen. Trotzdem konnte ich nicht glauben, dass eine solche Nachricht mich nicht eher erreichte, und sei es buchstäblich durch die Wände.
    »Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida!« wiederholte ich und versuchte mir meine Erregung nicht anmerken zu lassen. »Das ist doch aus der Bibel.«
    »Aus dem Neuen Testament.«
    »Es hört sich aber ganz anders an. Klingt es nicht eher nach dem zürnenden Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der mit seinen Kindern wieder einmal einen Streit auszutragen hat oder sie auf ihre Feinde hetzt? Die Strafe wird sicher schrecklich sein.«
    In religiösen Fragen hielt ich es seit langem mit Stendhal, der sagt, die einzige Entschuldigung Gottes sei, dass er nicht existiere. Dem war nicht viel hinzuzufügen, und ich konnte nicht anders, als mich gegen die Absurdität, überhaupt darüber reden zu müssen, mit Ironie zu wehren. Gleichzeitig dachte ich natürlich an den Bericht, den Daniel nach seiner Israel-Reise geschrieben hatte und der schon damals auch der Frau des Direktors nicht entgangen sein konnte. Darin war vom Gott der Juden die Rede, dem ein ganz anderer Gott entgegengesetzt

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