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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Gstrein
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Sie es auch die Realität nennen.«
    Er sah mich mit einem betrübten Blick an, als ich spöttelte, an ihm sei ein wirklicher Philosoph verlorengegangen, sprach dann aber unbeirrt weiter.
    »Zum Problem wird es erst, wenn einer gleichzeitig ein Wahrheitsfanatiker ist, der glaubt, die Wahrheit müsse unter allen Umständen gesagt werden, weil sonst die Welt nicht mehr heil wird«, sagte er. »Ein logischer Denker, der alles auf wahr oder falsch zurückführen will, entkommt dem Widerspruch nicht.«
    Er fragte, was Daniel studiert habe, winkte dann aber ab.
    »Bitte, sagen Sie es nicht. Lassen Sie mich raten. Ich würde wetten, etwas Naturwissenschaftliches. Vielleicht sogar Mathematik.«
    Als ich nickte, spreizte er sich zufrieden.
    »Sehen Sie, ich habe genau das erwartet.«
    Es waren nichts als Spekulationen, aber er schüttelte nur den Kopf, als ich ihn darauf hinwies, und sagte, er habe sich damit beschäftigt und die Strukturen seien immer die gleichen, bis hin zu dem religiösen Tick mit dem »Kehret um!« und dem »Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Betsaida!«.
    »Früher wären solche Leute ins Kloster gegangen. Es hätte ihnen genügt, der Welt zu entsagen. Heute wollen sie sich an ihr rächen und glauben, sie kurz und klein schlagen zu müssen, weil sie für sie eine Zumutung ist. Sie sind einsam und zornig, ohne zu wissen, worauf.«
    Ich musste ihn angesehen haben, als fragte ich mich, wie ausgerechnet ein kleiner Inspektor bei der Polizei zu solchen Thesen kam, weil er sich bemüßigt fühlte zu erklären, er habe auch einmal etwas anderes mit seinem Leben anfangen wollen, als in der Provinz Strafzettel zu verteilen.
    »Erinnern Sie sich an unser Gespräch vom Dienstag?«
    »Natürlich«, sagte ich. »Was ist damit?«
    »Wir haben über das ganz normale Leben gesprochen. Sie haben mich gefragt, seit wann das in die Zuständigkeit der Polizei fällt. Wissen Sie noch, was ich Ihnen gesagt habe?«
    Ich sah ihn an, und weil ich immer noch nicht wusste, was das sollte, fragte ich ihn halb zum Spaß, halb ernst, ob er damit sagen wolle, er wäre lieber ins Kloster gegangen, weil ihm das ganz normale Leben zu anstrengend sei.
    »Das nicht gerade«, sagte er lachend. »Doch angesichts der Möglichkeiten, die es den meisten bietet, kann ich mir ein gewisses Verständnis für Leute, die ins Unmögliche flüchten, nicht ganz versagen. Ich war im letzten Jahr zwei Wochen in Umbrien. Dort gibt es keinen Hügel, der nicht irgendwann einen Heiligen hervorgebracht hätte. Ich will damit nicht sagen, dass das heute alles Bombenleger geworden wären, aber ganz so einfach ist die Sache nicht.«
    Er ging nicht darauf ein, als ich ihn fragte, ob er mit diesen Ansichten nicht falsch sei bei der Polizei, und schaute eine Weile nur wie abwesend vor sich hin, bevor er scheinbar zusammenhanglos hinzufügte, man müsse nicht sehr gläubig sein, um in den alten Kirchen im Süden manchmal das Kreuz zu schlagen. Die Männer, die immer noch um Herrn Frischmann an der Theke standen und zu ihm hinübersahen, nahm er gar nicht mehr wahr. Ohne seine Uniformmütze und so wie er seine Unterarme auf den Tisch gestützt hatte, bekam er in seinem ganzen Gehaben etwas Demütiges, und offensichtlich wusste er das nicht nur, er wollte es auch. Seine eigene Redseligkeit schien ihm plötzlich unangenehm, aber das hinderte ihn dann doch nicht, gleich weiterzureden, er habe ein paar Semester Psychologie studiert, das Erstellen eines Täterprofils sei seitdem gewissermaßen sein Steckenpferd geblieben, und ich müsse entschuldigen, wenn ihn das manchmal über das Ziel hinaustrage. Dann sagte er, wer auch immer sich hinter den beiden Drohungen verberge, er würde seine Hand dafür ins Feuer legen, dass es sich um einen notorischen Einzelgänger handle, einen jungen Mann, sicher noch keine dreißig, von pathologischer Schüchternheit, der soziale Situationen hasse und wahrscheinlich ein gravierendes Problem mit dem anderen Geschlecht habe.
    Ich dachte, dass das ohne Zweifel auf einen großen Teil der Verrückten zutraf, die sich überlegten, eine Bombe zu bauen, und ließ ihn reden. Es war ein Schrotschuss ins Blaue und klang jetzt endgültig wie aus dem Lehrbuch, und ich war froh, dass er sich immer weiter vom Ausgangspunkt entfernt hatte und wieder ins Allgemeine abdriftete. Daher antwortete ich auch nicht, als er wissen wollte, ob die Beschreibungen vertraut für mich klängen, und als er mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, dass Daniel in dem Haus

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