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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Offenbar freute er sich, er war gelöst und ausgesprochen freundlich. Ich erzählte ihm von meiner Freundschaft mit Don Juan. Ich spürte sofort ein Band der Sympathie zwischen uns. Er erzählte mir, daß er und Don Juan einander kannten, seit sie zwanzig waren. Don Vicente war voll des Lobes für Don Juan. Gegen Ende unseres Gesprächs sagte er mit bebender Stimme: »Juan ist wirklich ein Wissender. Ich selbst habe mich nur kurze Zeit mit der Macht der Pflanzen befaßt. Ich interessierte mich immer mehr für ihre Heilkraft; ich habe sogar Botanikbücher gesammelt, die ich erst vor kurzem verkauft habe.« Er schwieg einige Zeit. Ein paarmal rieb er sein Kinn, als suche er nach den richtigen Worten.
    »Man könnte sagen, daß ich nur ein Mann des lyrischen Wissens bin«, sagte er. »Ich bin nicht wie Juan, mein indianischer Bruder.«
    Wieder schwieg Don Vicente. Seine Augen waren glasig, und er starrte auf den Boden zu seiner Linken. Dann drehte er sich zu mir herum und sagte beinah flüsternd: »Oh, in welchen Höhen schwebt mein indianischer Bruder!« Don Vicente stand auf. Unsere Unterhaltung war damit offenbar beendet.
    Wenn ein anderer über seinen indianischen Bruder gesprochen hätte, wäre mir das als ein billiges Klischee erschienen. Don Vicentes Ton war jedoch so aufrichtig, und seine Augen waren so klar, daß ich von dem Bild seines in höchsten Höhen schwebenden indianischen Bruders hingerissen war. Ich nahm ihm ab, daß er  meinte, was er sagte.
    »Lyrisches Wissen, alle Achtung!« rief Don Juan, nachdem ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. »Vicente ist ein brujo. Warum hast du ihn besucht?« Ich erinnerte ihn daran, daß er selbst mich aufgefordert hatte, Don Vicente zu besuchen.
    »Das ist absurd!« rief er aufgeregt. »Ich habe dir gesagt, daß du meinem Freund Vicente eines Tages, wenn du sehen könntest, einen Besuch abstatten solltest; nur das habe ich gesagt. Anscheinend hast du nicht zugehört.«
    Ich wandte ein, daß ich nichts dabei fände, Don Vicente besucht zu haben, und daß mich sein Verhalten und seine Freundlichkeit begeistert hätten. Don Juan wiegte den Kopf hin und her und drückte in halb scherzhaftem Ton seine Verwunderung darüber aus, was er »mein verblüffendes Glück« nannte. Er sagte, mein Besuch bei Don Vicente wäre dasselbe, als wollte man, nur mit einem Zweig bewaffnet, eine Löwenhöhle betreten. Don Juan schien erregt, aber ich sah beim besten Willen keinen Grund für seine Besorgnis. Don Vicente war ein wunderbarer Mann. Er wirkte so zerbrechlich; seine seltsam irrlichternden Augen gaben ihm ein beinah vergeistigtes Aussehen. Ich fragte Don Juan, wie ein so wunderbarer Mensch gefährlich sein konnte. »Du bist ein blutiger Narr«, sagte er mit ernstem Gesicht. »Er würde dir nicht absichtlich etwas zuleide tun. Aber Wissen ist Macht, und sobald sich ein Mann auf den Weg des Wissens begeben hat, ist er nicht mehr verantwortlich für das, was denen passieren mag, die mit ihm in Kontakt kommen. Du hättest ihn erst besuchen sollen, wenn du genug gewußt hättest, um dich zu verteidigen; nicht gegen ihn, sondern gegen die Macht, die er sich zunutze macht, welche, nebenbei gesagt, weder ihm noch sonst jemandem gehört. Als er hörte, daß du mein Freund bist, nahm Vicente an, daß du dich zu schützen wüßtest und machte dir daher ein Geschenk. Offenbar hatte er dich gern und gab dir ein großes Geschenk, und du hast es vergeudet. Wie schade!«
24. Mai 1968
    Ich hatte Don Juan fast den ganzen Tag bedrängt, er solle mir etwas über Don Vicentes Geschenk sagen. Ich hatte ihm klarzumachen versucht, daß er nicht vergessen dürfe, wie verschieden wir seien; was für ihn selbstverständlich sei, könne für mich absolut unbegreiflich sein.
    »Wie viele Pflanzen hat er dir gegeben?« fragte er schließlich. »Vier«, sagte ich, aber  genau konnte ich mich nicht erinnern. Dann wollte Don Juan wissen, was sich im einzelnen ereignete, nachdem ich Don Vicente verlassen und bevor ich am Straßenrand angehalten hatte. Aber auch daran konnte ich mich nicht erinnern. »Die Zahl der Pflanzen ist wichtig, genau wie die Reihenfolge der Ereignisse«, sagte er. »Wie kann ich dir sagen, was für ein Geschenk es war, wenn du dich nicht erinnern kannst, was passierte.« Ich bemühte mich vergeblich, mit den Ablauf der Ereignisse vor Augen zu rufen.
    »Wenn du dich an alles, was geschah, erinnern würdest, dann könnte ich dir wenigstens sagen, wie du dein Geschenk vergeudet

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