Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
ich. »Ich hätte mich aus dem Spiel lassen sollen. Was ich sagen wollte, war, daß es irgend etwas auf der Welt geben muß, an dem dir in einer Weise liegt, die du nicht als kontrollierte Torheit bezeichnest. Ich glaube nicht, daß man weiterleben kann, wenn einem nichts nahegeht.«
»Das trifft auf dich zu«, sagte er. »Dir gehen die Dinge nahe. Du hast mich nach meiner kontrollierten Torheit gefragt, und Ich habe dir geantwortet, daß alles, was ich in bezug auf mich und meine Mitmenschen unternehme, Torheit ist, weil nichts wichtig ist.«
»Ich meine folgendes, Don Juan: wenn dir nichts nahegeht, wie kannst du dann weiterleben?«
Er lachte, und nach einer kurzen Pause, während er zu überlegen schien, ob er mir antworten sollte, stand er auf und ging hinter das Haus. Ich folgte ihm. »Warte, Don Juan, warte«, rief ich. »Ich möchte es wirklich wissen. Du mußt mir erklären, was du meinst.«
»Vielleicht kann man es nicht erklären«, sagte er. »Dir gehen bestimmte Dinge in deinem Leben nahe, weil sie wichtig sind. Deine Handlungen sind für dich sicher wichtig, aber für mich ist gar nichts mehr wichtig, weder meine Handlungen noch die Handlungen irgendeines meiner Mitmenschen.
Ich lebe trotzdem weiter, weil ich meinen Willen habe. Weil ich mein ganzes Leben lang meinen Willen bezähmt habe, bis er klar und dienstbar wurde, und jetzt macht es mir nichts mehr aus, daß nichts wichtig ist. Mein Wille kontrolliert die Torheit meines Lebens.«
Er hockte sich nieder und fuhr mit den Fingern über ein paar Kräuter, die er auf einem großen Stück Sackleinen in die Sonne zum Trocknen gelegt hatte. Ich war verblüfft. Ich hätte nie geglaubt, daß meine Frage in eine solche Richtung führen würde. Nach einer langen Pause fiel mir ein guter Einwand ein. Ich sagte, daß für mich gewisse Handlungen meiner Mitmenschen von größter Bedeutung seien. Ich erwähnte den Atomkrieg als das zweifellos drastischeste Beispiel einer solchen Handlung. Die Zerstörung des Lebens auf Erden, sagte ich, sei für mich eine erschreckende Ungeheuerlichkeit. »Das glaubst du, weil du dir Gedanken machst. Du denkst über das Leben nach«, sagte Don Juan augenzwinkernd. »Du siehst nicht.«
»Wäre ich anderer Meinung, wenn ich sehen würde?«
»Sobald ein Mann sehen lernt, stellt er fest, daß er allein auf der Welt und nur von Torheit umgeben ist«, sagte Don Juan rätselhaft.
Er machte eine Pause und sah mich an, als wolle er die Wirkung seiner Worte abschätzen.
»Deine Handlungen, wie auch die Handlungen deiner Mitmenschen im allgemeinen, erscheinen dir wichtig, weil du gelernt hast, sie wichtig zu nehmen.« Er sprach das Wort »gelernt« mit so eigenartiger Betonung aus, daß ich ihn fragen mußte, was er damit meinte. Er hörte auf, mit seinen Pflanzen zu hantieren, und sah mich an.
»Wir lernen, über alles nachzudenken, und dann üben wir unsere Augen darin, die Dinge so zu sehen, wie wir über sie denken. Wir schauen uns an und sind im voraus überzeugt, daß wir wichtig sind. Darum müssen wir uns wichtig vorkommen! Aber wenn ein Mann sehen lernt, erkennt er, daß er nicht länger über die Dinge nachdenken kann, die er anschaut, und wenn er erkennt, daß er über das, was er sieht, nicht mehr nachdenken kann, dann wird alles unwichtig.« Don Juan mußte meinen erstaunten Blick bemerkt haben und wiederholte seine Feststellung dreimal, als wolle er mir helfen, sie zu verstehen. Was er sagte, war für mich anfangs ungereimtes Zeug, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erschienen mir seine Worte als eine tiefsinnige Bemerkung über einen bestimmten Aspekt der Wahrnehmung. Ich suchte nach einer guten Frage, die ihn dazu bringen sollte, sich deutlicher auszudrücken, aber mir fiel nichts ein. Plötzlich fühlte ich mich erschöpft und konnte meine Gedanken nicht mehr klar formulieren.
Don Juan schien meine Erschöpfung zu bemerken und klopfte mir auf die Schulter. »Reinige diese Pflanzen hier«, sagte er, »und schneide sie sorgfältig in diese Büchse.«
Er reichte mir eine große Kaffeebüchse und ging fort. Nach einigen Stunden, am Spätnachmittag, kehrte er wieder zu seinem Haus zurück. Ich war mit dem Zerkleinern der Pflanzen fertig und hatte bereits einige Zeit an meinen Aufzeichnungen geschrieben. Sofort wollte ich ihm ein paar Fragen stellen, aber er war nicht dazu aufgelegt, mir zu antworten. Er sagte, er habe Hunger und müsse etwas zu essen machen. Er entfachte in seinem Erdofen ein Feuer und
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