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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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mit flatternden Flügeln aus meinem Gesichtsfeld.
    Ich stand vor einem sehr eigenartigen Problem. Ich glaubte ehrlich, daß ich ihn durch meine Erkenntnis, daß er nur ein Bild des Grauens darstellte, überwältigt hatte. Diese Annahme ging wahrscheinlich auf Don Juans Behauptung zurück, ich wisse mehr, als ich zugeben wolle. Ich glaubte auf jeden Fall, ich hätte den Wächter überwunden, und der Weg sei frei. Trotzdem wußte ich nicht, wie ich weitermachen sollte. Don Juan hatte mir nicht gesagt, was ich in einem solchen Fall tun sollte. Ich versuchte, mich umzudrehen und hinter mich zu schauen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Immerhin konnte ich annähernd einen 180-Grad-Bereich vor meinen Augen klar überblicken. Und was ich sah, war ein wolkiger, blaßgelber Horizont. Er schien von gasartiger Beschaffenheit. Eine Art Zitronenfarbe lag einheitlich über allem, was ich sehen konnte. Offenbar befand ich mich auf einer von Schwefeldämpfen erfüllten Ebene.
    Plötzlich tauchte der Wächter wieder am Horizont auf. Er beschrieb einen weiten Kreis, bevor er unmittelbar vor mir stehenblieb. Sein Maul aufgesperrt, wie eine riesige Höhle. Er hatte keine Zähne. Er ließ die Flügel einen Moment vibrieren, Und dann griff er mich an. Er griff mich tatsächlich an wie ein Stier. Mit seinen gewaltigen Flügeln schlug er nach meinen Augen. Ich schrie vor Schmerz auf und dann sprang ich hoch, Vielmehr hatte ich eher das Gefühl, als hätte ich mich emporgeschleudert und schwebte am Wächter vorbei, über das gelbliche Plateau hinaus in eine andere Welt, die Welt der Menschen, und ich fand mich in der Mitte von Don Juans Zimmer stehend.
19. Januar 1969
    »Ich glaubte wirklich, ich hätte den Wächter überwältigt«,  sagte ich zu Don Juan.
    »Du machst Witze«, sagte er.
    Don Juan hatte seit dem gestrigen Tag kein Wort mit mir gewechselt, aber das machte mir nichts aus. Ich war irgendwie in eine Träumerei versunken und hatte wieder geglaubt, daß  ich, wenn ich nur aufmerksam schaute, fähig sein würde zu sehen. Aber ich sah nichts, was anders gewesen wäre. Nicht zu sprechen, hatte mich jedoch ungeheuer entspannt. Don Juan bat mich, ihm meine Erlebnisse der Reihe nach zu erzählen, und was ihn besonders interessierte, war die Farbe, die ich auf dem Rücken des Wächters gesehen hatte. Don Juan seufzte und schien ernstlich besorgt. »Du hattest Glück, daß die Farbe auf dem Rücken des Wächters war«, sagte er mit ernstem Gesicht. »Wäre sie an der Vorderseite seines Körpers oder, noch schlimmer, an seinem Kopf gewesen, dann wärst du jetzt tot. Du darfst nie wieder versuchen, den Wächter zu sehen. Es entspricht nicht deinem Temperament, diese Ebene zu überqueren; wenn ich auch überzeugt war, daß du hindurchgehen könntest. Aber wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Das war nur einer von vielen Wegen.«
    Ich bemerkte eine ungewohnte Ernsthaftigkeit in Don Juans Stimme.
    »Was geschieht mir, wenn ich versuche, den Wächter wiederzusehen?«
    »Der Wächter wird dich mitnehmen«, sagte er. »Er wird dich mit dem Maul packen  und auf diese Ebene bringen und dich für immer dort lassen. Es ist offenbar, daß der Wächter wußte, daß es nicht deinem Temperament entspricht, und dich mahnte, dich fernzuhalten.«
    »Wie, glaubst du, konnte der Wächter das wissen?« Don Juan schaute mich lange unverwandt an. Er versuchte etwas zu sagen, aber dann ließ er es, als könne er nicht die richtigen Worte finden.
    »Ich falle immer wieder auf deine Fragen rein«, sagte er lächelnd. »Du hast dir diese Frage nicht wirklich überlegt, nicht wahr?«
    Ich protestierte und versicherte ihm, daß mich die Tatsache verwirrte, daß der Wächter mein Temperament kannte. Don Juan hatte ein seltsames Leuchten in den Augen, als er sagte: »Und du hattest dem Wärter nicht mal etwas von deinem Temperament erzählt, nicht wahr?«
    Er sagte dies mit so komischem Ernst, daß wir beide lachen müßten. Nach einer Weile sagte er jedoch, daß der Wächter, als der Wärter, der Aufpasser der anderen Welt, viele Geheimnisse kannte, die ein brujo mit ihm zu teilen das Recht hatte. »Dies ist ein Weg, auf dem ein brujo zum Sehen gelangt«, sagte er. »Aber das ist nicht dein Gebiet. Also hat es keinen Sinn, darüber zu reden.«
»Ist das Rauchen der einzige Weg, um den Wächter zu sehen?« fragte ich. »Nein, du könntest ihn auch sehen, ohne zu rauchen. Das tun viele. Ich persönlich bevorzuge das Rauchen, weil es wirksamer und für einen

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