Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
plötzlich wieder auf.
»Nicht sprechen, bitte sprich nicht«, sagte er mit ernstem Gesichtsausdruck.
»Ich wollte ja gar nichts sagen«, sagte ich, und wirklich hatte ich auch dies nicht sagen wollen.
Don Juan stand auf. Ich sah ihn zur Rückseite seines Hauses davongehen. Im nächsten Moment bemerkte ich, daß eine Mücke auf meiner Matte gelandet war, und das erfüllte mich mit einer Angst, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Es war eine Mischung aus Heiterkeit, Qual und Furcht. Ich war ganz darauf gefaßt, daß sich vor mir sogleich etwas Transzendentales abspielen würde; eine Mücke, die die andere Welt bewachte. Es war eine lächerliche Vorstellung; mir war danach zumute, laut zu lachen, aber dann erkannte ich, daß meine Heiterkeit mich ablenkte und ich eine Übergangsphase versäumen würde, über die ich mir Klarheit verschaffen wollte. Bei meinen vorherigen Versuchen, den Wächter zu sehen, hatte ich die Mücke zuerst mit dem linken Auge angesehen und dann den Eindruck gehabt, ich sei aufgestanden und hätte sie mit beiden Augen angesehen, aber ich war mir nicht bewußt, wie dieser Übergang erfolgte.
Ich sah die Mücke vor meinem Gesicht auf der Matte herumwirbeln und stellte fest, daß ich sie mit beiden Augen ansah. Sie kam sehr nah; in einem bestimmten Moment konnte ich sie nicht mehr mit beiden Augen sehen und wechselte den Blick auf das linke Auge, das sich auf Bodenhöhe befand. Kaum wechselte ich den Blick, da hatte ich auch das Gefühl, daß ich meinen Körper aufgerichtet hatte, und ich starrte auf ein unglaublich riesiges Tier. Es war glänzend schwarz. Seine Vorderseite war mit langen, schwarzen, widerwärtigen Haaren bedeckt, sie sahen aus wie Dornen, die unter glatten, glänzenden Schuppen hervorbrechen. Das Haar war, genaugenommen, in Büscheln angeordnet. Der Körper war massiv und die Flügel waren breit und, verglichen mit der Länge des Körpers, kurz. Es hatte zwei weiße, vorspringende Augen und eine lange Schnauze. Diesmal sah das Monstrum eher wie ein Alligator aus. Es hatte lange Ohren, vielleicht waren es auch Hörner, und es sabberte.
Ich zwang mich, meinen Blick darauf zu fixieren, und dann wurde mir voll bewußt, daß ich es nicht in der Weise anschauen konnte, wie ich die Dinge für gewöhnlich anschaue. Mir kam eine seltsame Idee. Als ich den Körper des Wächters anschaute, hatte ich den Eindruck, daß alle seine einzelnen Teile unabhängig voneinander lebendig seien, so wie die Augen von Menschen lebendig sind. Bei dieser Gelegenheit wurde mir zum erstenmal im Leben bewußt, daß die Augen der einzige Teil eines Menschen waren, an dem ich sehen konnte, ob er lebendig war oder nicht. In diesem Sinn hatte der Wärter »Millionen Augen«.
Das hielt ich für eine bemerkenswerte Feststellung. Vor diesem Erlebnis hatte ich versucht, einen Vergleich zu finden, um die »Verzerrung« zu beschreiben, die eine Mücke in eine gigantische Bestie verwandelte. Und ich hatte gemeint, ein guter Vergleich sei, dieses Phänomen zu beschreiben, »als ob man ein Insekt durch die vergrößernde Linse eines Mikroskops ansähe«. Aber das traf nicht zu. Offenbar war der Anblick des Wächters weit komplexer als die Vergrößerung eines Insekts. Der Wächter begann, vor mir herumzuwirbeln. Irgendwann blieb er stehen, und ich glaubte, er sähe mich an. Dann bemerkte ich, daß er kein einziges Geräusch machte. Der Tanz des Wächters war lautlos. Das Furchteinflößende lag in seiner Erscheinung: in seinen hervorspringenden Augen, seinem grauenhaften Maul, seinem Sabbern, seinen widerwärtigen Haaren, und vor allem in seiner unglaublichen Größe. Ich beobachtete sehr genau, wie er seine Flügel bewegte, wie er sie lautlos vibrieren ließ. Ich beobachtete, wie er gleich einem monumentalen Schlittschuhläufer über den Boden glitt. Als ich dieses alptraumartige Wesen vor mir anschaute, fühlte ich mich tatsächlich beschwingt; ich glaubte wirklich das Geheimnis gefunden zu haben, wie ich es überwältigen konnte. Ich meinte, der Wächter sei nur ein sich bewegendes Bild auf einem tonlosen Bildschirm; er könnte mir nichts anhaben und sah nur furchterregend aus.
Der Wächter stand ruhig mir gegenüber; plötzlich flatterte er mit den Flügeln und drehte sich um. Sein Rücken sah wie ein glänzender farbiger Panzer aus. Sein Glanz blendete mich, aber seine Färbung war ekelerregend. Genau die Farbe, die ich haßte. Der Wärter hielt mir eine Weile den Rücken zugewandt, und dann glitt er wieder
Weitere Kostenlose Bücher