Eine angesehene Familie
Ehe vorgestöhnt hatte und gleichzeitig von dem Bassisten der Wiesbadener Oper schwärmte. Aus Ljubas Sicht war es ein Kreuz, mit einem völlig amusischen Fleischwarenfabrikanten zu leben. Nach Jahren unerträglicher Langeweile funktionierte für Ljuba Rolle die Ehe nur noch, weil die Gesellschaft verlangte, daß eine heile Welt demonstriert wurde. Skandale waren überdies geschäftsschädigend.
Maria Barrenberg begriff zunächst nur, daß Monika die Nacht weggeblieben war. Sie verstand Eduards Aufregung nicht und sagte: »Mein Gott, sie wird bei einer Freundin übernachtet haben! Seit wann regt dich das auf?! Das hat sie schon ein paarmal gemacht! Du hast dich nie darum gekümmert, und auf einmal –«
»Sie ist bei keiner Freundin!« schrie Barrenberg. »Begreifst du das denn nicht? Sie hat gesagt: Ich mache kein Abitur! Ich gehe für immer! Für immer, Maria! Das hat sie gesagt. Ich gehe für immer!«
»Dummheit!« Sie starrte Barrenberg verständnislos an. »Du hast mit ihr Streit gehabt, nicht wahr?«
»Ich habe ihr eine geklebt!«
»Eduard!«
»Ich mußte es! Natürlich bereue ich das jetzt! Aber nun ist sie weg! Weg! Verstehst du das? Weg!«
»Bei einer Freundin! Ich rufe sofort alle an.« Maria streifte ihren Mann mit einem strafenden Blick. »Du hast das Kind doch nie geschlagen …«
»Spare dir das Telefon. Ich habe schon alle angerufen. Sie ist nirgendwo.« Und plötzlich weinte er wieder; die Tränen quollen dick. Maria wich zurück. Zum erstenmal nach dem tragischen Tod ihres Sohnes Georg Marcel sah sie ihren Mann weinen. Es war ein Anblick, der lähmend und alarmierend zugleich wirkte. Mit zitternden Händen fuhr sie sich über das Haar und spürte, wie ihr Herz untragbar schwer wurde. »Weißt du, was Holger sagt?« weinte Barrenberg. Es klang, als berichte ein kleiner Junge von seinem Sturz mit dem Roller, »Holger Mahlert, der Freund von Spätzchen. Sie sei süchtig, sagt er. Heroinsüchtig! Sie spritzt sich! Aber ich glaube das nicht. Ich kann das einfach nicht glauben. Das ist doch unmöglich, Maria! Unser Spätzchen, unser kleines Spätzchen – warum denn bloß? Ich begreife das nicht.«
Maria Barrenberg setzte sich vor den weinenden Eduard auf einen Stuhl, legte beide Hände über die Augen und seufzte tief. Schwindel erfaßte sie, Übelkeit des Entsetzens. Aber sie war stark genug, auch das zu überstehen und es Eduard nicht zu zeigen. Nach einer Weile des Schweigens sagte sie nur:
»Ich gehe hinauf in Monis Zimmer. Vielleicht finde ich etwas?«
»Was denn? Einen Abschiedsbrief?«
»Bestimmt nicht. Aber wenn sie so einfach weggerannt ist, hat sie ja alles zurückgelassen. Wir müssen suchen, Eduard, wir müssen etwas suchen, was uns hilft. Kommst du mit?«
Sie gingen die Treppe hinauf in Monikas Zimmer. Eduard stützte sich schwer auf Marias Schulter, als er ihr unberührtes Bett sah, die Stereoanlage, die Viola da Gamba an einem Nagel hängend, den Notenständer, die Konzertflöte, die Bücher und den zerrupften Teddy, den sie seit ihrem dritten Lebensjahr mit sich herumschleppte und mit dem sie untrennbar verbunden war. Bis gestern … Daß sie den Teddy zurückgelassen hatte, war ein Beweis, daß sie aus diesem behüteten Leben für immer ausgeschieden war. Es war kein Beweis so stark wie dieser! Barrenberg rannen die Tränen wieder aus den Augen. Er setzte sich auf das Bett und war unfähig, weiter zu denken als: Sie hat den Teddy nicht mitgenommen. Ihren geliebten Teddy. Das muß das Ende sein.
Nach einer halben Stunde fand Maria zwischen den alten Schulheften das Tagebuch Monikas. Sie setzte sich neben Eduard auf das Bett, blätterte in dem Heft, zunächst ohne zu lesen, aber als sie auf den Namen Makaroff stieß, fuhr es wie ein heißer Schlag durch ihren Körper.
Sie atmete tief durch, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen. Eduard Barrenberg stieß sie leicht an.
»Was ist das?«
»Spätzchens Tagebuch.«
»Sie hat ein Tagebuch geführt?«
»Danke dem Himmel dafür! Wir werden wissen, was in unserer Tochter vorgegangen ist. In unserer unbekannten Tochter, Eduard.«
»Lies vor!« sagte Barrenberg dumpf. »Bitte, lies vor.«
»Das kann ich nicht.« Sie sah ihn flehentlich an. »Du – du hast in unserem Leben vieles von mir verlangt. Aber, bitte, verlange das nicht von mir. Lies es nachher selbst.«
Sie brauchte eine Stunde, um alles bis zur letzten Eintragung zu lesen. Eine Stunde ohne Worte, in völliger Stille, in der nur beider Atem zu hören war, und
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