Eine angesehene Familie
Geschäftshaus hochzuziehen. Dafür gab es Zuschüsse, das brachte mehr Miete ein, die Kreditzinsen konnte man von der Steuer absetzen. Das alte Haus war im Jahre 1909 gebaut worden, mit einer imposanten verschnörkelten Fassade, drei übereinanderliegenden Balkonen mit kunstvollen Eisengittern und aus Stein gehauenen muskulösen Männerstatuen, auf deren Schultern sich die Balkone stützten. Einst ein schönes Haus, Visitenkarte reichen Bürgertums – jetzt verkommen, mit schiefen Jalousien vor mit Pappe geflickten Fensterscheiben, ohne Licht, ohne Wasser, ohne Haustür, verdreckt und morsch vom Treppenhaus bis unters Dach. Zwei Jahre lang hatten hier Ausländer gewohnt, Gastarbeiter, Türken aus dem Gebiet des Cukurca, an der irakischen Grenze, dort, wo die Welt aufhört, bewohnbar zu sein. Für sie war das verfallene Haus wie ein Paradies, bis sie nach zwei Jahren merkten, daß sie durch maßlos überhöhte Mieten betrogen wurden. So hörte der Goldesel zu spucken auf, das Haus verfiel noch mehr, weil die Türken alle Schalter und Waschbecken, alle Klotöpfe, überhaupt alles, was man gebrauchen konnte, abmontiert und mitgenommen hatten, gewissermaßen als Entschädigung für den Betrug.
Was übrig blieb, war eine Ruine mit dem zerfurchten Gesicht einer glanzvollen Epoche. Sie wurde von neunundzwanzig jungen Außenseitern der Gesellschaft besetzt, dreimal von der Polizei gestürmt, erschien einmal im Fernsehen und bekam eine große Karteikarte bei der Kripo: Bewohner sind ständig wegen Drogenmißbrauchs zu überwachen.
Von da ab hatten die Bewohner Ruhe. Sie bildeten fünf Wohngemeinschaften nach dem Prinzip absoluter Freiheit, schliefen auf dem Boden, auf Matratzen, ersetzten Schränke durch Nägel in den Wänden, warfen den Unrat einfach aus dem Fenster in den kleinen, verwilderten Hintergarten und lebten zeitlos dahin, zwischen ›Anschaffen‹ und ›Drücken‹. Junge Menschen ohne Illusionen, ohne Zukunft, ohne Hoffnung, zerbrochen an sich selbst, weil sie den Sinn ihres Lebens nicht begriffen.
Freddy wohnte auf der dritten Etage in einem großen, leeren Zimmer, in dem nur eine Doppelmatratze auf den dreckigen Dielenbrettern lag. Es gab keine Vorhänge, keinen Schrank, keinen Tisch, keinen Stuhl. Was er brauchte, stellte er auf die Fensterbank oder neben seine Matratze. Auf einem Klosett, das er mit der Wohngemeinschaft IV teilen mußte, wusch er sich in einem kleinen Emaillebecken. Auf einem einflammigen runden Elektrokocher bereitete er sich warmes Essen, wenn ihm danach zu Mute war. Den Strom dafür holte er sich mit einem raffinierten Trick: Er hatte aus dem Fenster, die Hauswand hinunter, ein Kabel gezogen und es am elektrischen Verteiler des Nebenhauses angeklemmt. Das hatte er so perfekt gemacht, daß die Nachbarn zwar das Kabel sahen, aber annahmen, es gehöre zu ihrem Haus und habe irgendeine Funktion.
Diesen Trick verkaufte Freddy reihum an die Wohngemeinschaften gegen andere Leistungen. Nummer II zum Beispiel besaß ein Badezimmer. Hier erschien Freddy mit seinem Kabel und schloß einen Tauchsieder an, bis das Wasser schön warm war. Überhaupt das Wasser! Als man das Haus besetzte, war auch das Wasser gekappt worden. Es wurde an der Zuleitung abgestellt. Genau neunmal drehten die Wohngemeinschaften den Absperrschieber wieder auf, bis es zu einem Kompromiß kam: Die Bewohner des Hauses Nr. 17 hinterlegten fünfhundert Mark bei den Städtischen Wasserwerken als Garantie, und das lebensnotwendige Naß rann wieder durch die verrosteten Leitungen. Dagegen spielte das E-Werk nicht mit; es lieferte auch gegen Garantie keinen Strom.
»Kochen kann man auch auf Propangas!« sagte man im Haus Nr. 17. »Aber Wasser muß sein! Leckt uns also alle am Arsch!« Eine rein rhetorische Aufforderung, der kein Beamter nachkam.
Monika blieb betroffen stehen, als sie das Haus betrat. Es stank nach Kohl, Urin, Fäkalien und süßlich nach Verwesung. Irgendwo spielte jemand Gitarre, eine Frauenstimme überschlug sich lachend und kreischend, dazwischen plärrte ein Säugling. Die Tür zur linken Untergeschoßwohnung stand auf, ein bärtiger Mann mit magerem, knochigem Körper lag nackt auf der Matratze und schnarchte mit offenem Mund.
Zweites Stockwerk, dachte Monika und rannte die schmierige Treppe hinauf. Auf dem Absatz der ersten Etage prallte sie zurück, eine große Lache Erbrochenes versperrte ihr den Weg.
Sie machte einen weiten Schritt und rannte die Treppe weiter hinauf. Ein Mädchen, nur mit einem
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