Eine Art von Zorn
ganze Skiausrüstung bei ihrer Tante in Menton gelassen hatte. Sie wollte dorthin fahren und sie holen. Damit war ich natürlich nicht einverstanden, und deshalb versprach ich ihr, in St. Moritz eine neue Ausrüstung für sie zu kaufen. Sehr zufrieden war sie damit nicht. Sie sagte, ihre eigenen Schuhe seien besser als alles, was man jetzt kaufen könne. Während wir noch darüber diskutierten, erzählte sie mir, daß sie, bevor sie nach Paris zog, seit ihrer Kindheit jedes Jahr zum Skilaufen gefahren sei. Ihre Eltern hatten sie immer nach Peira-Cava mitgenommen, einem Ort, der in den Bergen oberhalb Nizzas liegt. Es war nur ein kleines, armseliges Dorf, sagte sie, und gar nicht en vogue , aber sie liebte den Ort, obschon die Abfahrten nicht besonders gut waren. Er liegt noch in Frankreich, nahe der italienischen Grenze, bei Sospel, etwa 40 km von Nizza entfernt.«
»Und Sie glauben, daß sie dorthin gehen würde, wo man sie kennt?« fragte ich.
»Natürlich nicht in ein Hotel oder in eine Pension.«
»Hatte sie dort Freunde?«
Er grinste. »Nicht gerade Freunde. Aber sie erzählte mir eine Geschichte über den Ort, die mir im Gedächtnis haften blieb. Sie wissen doch sicher über ihre lesbische Freundin Bescheid, über die in Antibes?«
»Henriette Colin?«
»Ja – Henriette. Vor ungefähr drei Jahren, noch bevor ihr Laden pleite ging, nahm Lucia Henriette mit nach Peira-Cava. Es war kurz nach Weihnachten. Henriette konnte nicht Skifahren, und alles ging ihr auf die Nerven. In der Bruchbude von einem Hotel, in dem sie wohnten, funktionierte die Heizung nicht, und die Hoteldirektion mußte in Zeitungspapier eingepackte heiße Backsteine austeilen, damit sich die Gäste die Hände wärmen konnten. Henriette weigerte sich auszugehen. Sie saß den lieben langen Tag in Decken gewickelt herum und wärmte einen Backstein am Ofen der Hotelbar. Lucia wollte sie dazu überreden, zurück nach Antibes zu fahren, aber allein hatte sie dazu keine Lust. Wenn Lucia dableiben und Ski laufen wollte, so sollte sie das tun. Henriette würde sich eben opfern. Aber dann fand sie eine Freundin.«
Er stand auf und schenkte mir noch einen Kognak ein.
»Henriette fand eine Freundin?«
»Ja. Eine alte Dame, die in der Bar Zigaretten zu kaufen pflegte. Sie kamen ins Gespräch. Henriette erkundigte sich beim Hotelbesitzer nach ihr. Die alte Dame war die Witwe irgendeines Großindustriellen und stinkreich. Sie besaß, etwa einen Kilometer vom Dorf entfernt, ein großes Haus, und, abgesehen von einem Dienerehepaar, lebte sie allein. Henriette erfuhr, daß sie einsam und etwas schrullig sei. Der Hotelbesitzer sagte aber nicht, wie schrullig, und Henriette ließ sich nicht abschrecken. Als die alte Dame ihr erzählte, wie warm sie es in ihrem Haus habe, und Henriette und Lucia fragte, ob sie nicht für den Rest ihres Aufenthaltes bei ihr wohnen wollten, zögerte Henriette nicht eine Sekunde. Lucia schloß sich ihr an. Ihr war alles recht, was Henriettes Langeweile vertreiben konnte. Außerdem gefiel ihr die alte Dame, und sie tat ihr leid. Und Hotelkosten würden sie auch sparen. Das gab für Lucia den Ausschlag. Sie zogen also zu der alten Dame.« Er machte eine Pause.
»Und die alte Dame stellte sich wirklich als sehr schrullig heraus, nehme ich an?«
Er nickte. »Sie war eine Äthertrinkerin.«
»Was war sie?«
»Sie trank Äther. Sie hatte sich daran gewöhnt. Sie konnte fünfhundert Gramm an einem Tag trinken, wenn sie einmal anfing.«
»Davon hast du mir noch nie etwas erzählt, Philip«, sagte Madame Sanger. Ihre Stimme klang weniger vorwurfsvoll als interessiert.
»Ich hatte es selbst vergessen, bis ich mich zu fragen begann, wo Lucia sich versteckt haben könnte«, sagte er.
»Aber warum sollte sie dorthin gehen?«
»Ich habe ja noch nicht fertig erzählt. Sehen Sie, das alte Mädchen brauchte das Zeug nicht dauernd. Eine Woche oder zehn Tage lang ging es auch ohne. Dann ließ sie sich nach Nizza fahren und kehrte mit einer großen blauen Flasche zurück. Das Zechgelage dauerte zwei bis drei Tage. Für Leute, die sich nur vollaufen lassen wollen, um zu vergessen, und denen es nichts ausmacht, wie das Zeug schmeckt, ist Äther gar nicht so übel, müssen Sie wissen. Es wirkt schneller als Alkohol, ist weniger schädlich und hinterläßt so gut wie keinen Kater. Das ist natürlich alles relativ. Manchen wird beim Gedanken daran schon übel. Das ist ganz verschieden. Als Henriette bemerkte, in was sie sich da eingelassen
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