Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
sagte eine der Frauen vor der Kamera. »Uns vorzuschreiben, wie wir uns kleiden! Ich fühle mich in meiner Würde verletzt!« »Frankreich ist ein laizistischer Staat und duldet kein Symbol religiöser Unterdrückung in der Öffentlichkeit«, sagte der Regierungsvertreter. »Ich fühle mich nicht unterdrückt, ich will den Schleier tragen!«, rief die Frau aus, »das gehört zu meiner religiösen Würde!« »Der Staat sieht das anders«, sagte der Mann, »er muß die Verfassung schützen, indem er das Prinzip der Laizität verteidigt und seine Verletzung verbietet.« »Ich fühle mich gedemütigt , wenn Sie mich zwingen, das Tuch abzulegen!«, rief die Frau aus. »Ich fühle mich so ohnmächtig !«
Die Garantie der Würde ist die Transparenz der Ziele und der Gründe für ein bevormundendes Gesetz oder eine bevormundende Kampagne. Dazu gibt es unübertroffene Worte von Wilhelm v. Humboldt: »Die einzige Art beinah, auf welche der Staat die Bürger belehren kann, besteht darin, daß er das, was er für das Beste erklärt, gleichsam das Resultat seiner Untersuchungen, aufstellt und entweder direkt durch ein Gesetz oder indirekt durch irgendeine die Bürger bindende Einrichtung anbefiehlt oder durch sein Ansehn und ausgesetzte Belohnungen oder andre Ermunterungsmittel dazu anreizt oder endlich es bloß durch Gründe empfiehlt; aber welche Methode er von allen diesen befolgen mag, so entfernt er sich immer sehr weit von dem besten Wege des Lehrens. Denn dieser besteht unstreitig darin, gleichsam alle mögliche Auflösungen des Problems vorzulegen, um den Menschen nur vorzubereiten, die schicklichste selbst zu wählen, oder noch besser, diese Auflösung selbst nur aus der gehörigen Darstellung aller Hindernisse zu erfinden.«
»Daß es bei euch draußen keinen Volksentscheid gibt!«, sagte mein Vetter Hans aus Bern bei unserem letzten Treffen. »Daß du in einem solchen Land leben magst! Gut, ihr könnt die Abgeordneten wählen. Aber das ist auch schon alles. Und nun entscheiden die und nicht mehr ich. Damit trete ich doch meine Autorität ab. Ich trete sie ab , gebe sie auf ! Der Rest ist pure Bevormundung. Ich sitze vor dem Fernseher und muß ohnmächtig mit ansehen, wie sie über meinen Kopf hinweg all die Dinge entscheiden, die mein Leben betreffen. Mein Leben! Und ich habe in diesen Dingen meine Autorität abgegeben. Was für ein Aberwitz! Wie bin ich froh, daß es hier anders ist. Hier kann ich bis zuletzt mitbestimmen. Gut, am Ende verliere ich vielleicht, die Mehrheit ist gegen mich. Aber ich konnte votieren, Einfluß nehmen – auch wenn es am Ende nicht gereicht hat.«
»Es sind komplizierte Dinge, die da zu entscheiden sind«, sagte ich. »Ohne Fachwissen und besondere Kompetenz kann man gar nicht zu einem abgewogenen Urteil kommen. Stammtisch reicht da nicht. Und ist gefährlich: Es regieren Sprüche, Halbwahrheiten und Gefühle, die sich aus düsteren Quellen speisen. Eine dubiose Art von Autorität. Wenn ich diese Dinge den Abgeordneten überlasse, den Ministern und dem Kabinett, dann in der Hoffnung und im Vertrauen darauf, daß sie mit mehr Übersicht und Vernunft entscheiden werden, als wenn jeder jedesmal aus dem Bauch heraus mitbestimmen könnte. Und was das Land betrifft, in dem ich lebe: Es gab schlimme Erfahrungen mit der direkten Demokratie. Deshalb hat man sich gegen sie entschieden. Völker können durch eine Flut von Indoktrination, Verblendung und blindem Empfinden weggeschwemmt werden. Die Autorität jedes Einzelnen wird dann mit fortgerissen. Ohne daß er es merkt. Das ist die vollkommene Bevormundung.«
»Ziemlich naiv, die Sache mit der Hoffnung und dem Vertrauen. Die haben doch oft auch keine Ahnung! Und was ist mit ihren Motiven? Gibt es da vielleicht keine düsteren Quellen? Nein, nein, ich sage dir: In den wichtigen Dingen des Lebens gibt man seine Autorität nicht aus der Hand. Man läßt sich nicht freiwillig bevormunden. Das ist dumm. Und würdelos !«
Das sei ein Mißbrauch des Worts, sagte ich kühl. Der ganze Abschied war kühl. Nach einigen Tagen kam eine Postkarte. »Würdelos« – damit habe er wohl übers Ziel hinausgeschossen, schrieb Hans. »Wenn ich mir einige Dinge ansehe, die hier in letzter Zeit geschehen sind – so ganz sicher bin ich mir meiner Sache nicht.« »Wenn ich mir einige Dinge ansehe, die hier in letzter Zeit geschehen sind«, schrieb ich zurück, »dann bin auch ich mir meiner Sache so ganz sicher nicht.«
Fürsorgliche Bevormundung
Auch
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