Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
tippt. Aber es ist Höss, der Handlanger von Eichmann, der Kommandant eines Vernichtungslagers mit Millionen von Toten, und drüben bei den Verbrennungsöfen, in Sichtweite, hängt ein Rauchschleier so dick – sagt Sophie später –, daß man ihn auf den Lippen schmecken kann wie Sand. Und was Sophie schreiben muß, sind Sätze wie diese: »Da der Mechanismus für die Spezialbehandlung in Birkenau weit mehr belastet wird als erwartet, wird respektvoll vorgeschlagen, im besonderen Fall der griechischen Juden andere Bestimmungsorte in den besetzten Gebieten des Ostens ins Auge zu fassen.« Wenn es eine Würde des Menschen gibt, die darin besteht, daß es feste, unverrückbare Grenzen für das gibt, was er zu tun bereit ist: Wie empfinden wir Sophies Bereitschaft, solche Sätze im Angesicht des Rauchs von Birkenau zu tippen? Und welche Rolle spielt dabei die Tatsache, daß das Leiden, dem Sophie durch das Schreiben solcher Sätze für eine Weile entfliehen kann, alles übersteigt, was man sich vorstellen kann?
Wir lesen dann von Sophies Versuch, Höss zu verführen. Damit er sie aus dem Lager entläßt. Es entsteht eine Intimität mit diesem Mann, die der Leser unerträglich findet. Wie sie hierhergekommen sei, fragt er. »Das Schicksal hat mich zu Ihnen gebracht, weil ich wußte, daß nur Sie verstehen würden.« Er gibt ihr ein Stück Schokolade, wischt ihr einen Krümel von der Lippe und steckt ihn in den Mund. Er wünsche Verkehr mit ihr, sagt er etwas später in seiner bürokratischen Diktion. Es kommt nicht dazu. Plötzlich ist Höss für sie wieder der unnahbare Kommandant von Auschwitz. Sie zeigt ihm ein judenfeindliches Pamphlet, das sie als Tochter eines fanatischen polnischen Antisemiten bei sich trägt. Sie tut alles, um ihm nach dem Mund zu reden. Jetzt hat sie alle Grenzen überschritten, die körperlichen wie die geistigen. Es gibt keine innere Festung mehr. Wie kann sie danach weiterleben?, fragt man sich. Mit sich weiterleben?
Doch dann erfährt man: Sie hat die Grenzen der Selbstachtung nicht für sich selbst überschritten, sondern für ihr Kind. Sie fleht ihn an: »Herr Kommandant, ich weiß, daß ich für mich nicht viel verlangen kann. Aber ich bitte Sie, das eine zu tun, bevor Sie mich ins Lager zurückschicken. Ich habe einen jungen Sohn im Lager D – dort, wo all die anderen Knaben gefangen sind. Er war bei mir, als ich ankam, doch ich habe ihn seit sechs Monaten nicht gesehen. Ich sehne mich danach, ihn zu sehen. Ich habe Angst um seine Gesundheit im bevorstehenden Winter. Ich bitte Sie zu prüfen, wie man ihn freilassen könnte. Seine Gesundheit ist zerbrechlich, und er ist doch noch so jung …« Später berichtet sie: »Ich konnte nicht anders: Ich warf mich gegen ihn, schlang meine Arme um seine Taille und flehte ihn an. Ich sagte: ›Lassen Sie mich meinen kleinen Jungen wenigstens sehen , ein einziges Mal.‹ Und als ich das sagte, konnte ich nicht anders und fiel vor ihm auf die Knie. Ich umfaßte Höss’ Stiefel mit meinen Armen. Ich preßte meine Wangen gegen diese kalten Lederstiefel, als wären sie aus Pelz gemacht oder aus etwas Warmem und Tröstendem. Ich glaube, vielleicht leckte ich sie sogar mit meiner Zunge, leckte diese Nazi-Stiefel.«
Winston bei Orwell verrät Julia und damit sich selbst, um einer letzten Grausamkeit zu entgehen. Es geht um ihn selbst. Hier ist es anders: Es geht Sophie nicht um sich selbst, sondern um das Kind. Es ist, könnte man sagen, ein Fall, in dem jemand seine Selbstachtung opfert , um einen anderen zu schützen. Es ist das Opfer der eigenen Würde, und wenn das zu schützende Gut groß ist, heben seine Größe und der Opferwille den Verlust auf: Geopferte Würde ist keine verspielte Würde. Kann man sagen: Man hat die alte Würde verloren, aber durch das Opfer eine neue gewonnen? Oder hat man überhaupt keine Würde verloren? Man verliert sie, wenn man zum eigenen Nutzen diejenige Grenze überschreitet, die markieren sollte, was solchen Erwägungen entzogen sein müßte. Man verliert sie vielleicht auch, wenn die Grenze aus Notwehr überschritten wird, wie bei Winston, doch dann ist es ein entschuldbarer Verlust. Geschieht es dagegen, wie bei Sophie, aus Selbstlosigkeit, so steige ich, könnte man sagen, zu einer neuen Art von Willen auf: Es geht nicht mehr um mein Wohl, sondern um fremdes Wohl. Kann man sagen: Die Frage der Würde hat sich auf diese andere Ebene verschoben, ich bin mir meiner Würde sicher durch den neuen, selbstlosen Willen
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