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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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und brauche mich um das, was früher zur Würde gehörte, nicht mehr zu kümmern? Oder sogar: Die alten Kriterien gelten einfach nicht mehr, sie sind außer Kraft gesetzt durch den neuen Willen? So daß, weil sie nicht mehr gelten, gar kein Würdeverlust eintritt?
    Oder ist es vielleicht noch anders? Zu Ende ihres Berichts sagt Sophie etwas, das jedes Nachdenken über verlorene Würde zum Verstummen bringen kann: »Auschwitz war ein derart schrecklicher Ort, schrecklich über alle Vorstellung hinaus, daß man einfach nicht sagen konnte: Diese Person sollte etwas auf feine oder noble Weise tun, wie in der anderen Welt.« Das ist, könnte man ergänzen, einfach der falsche Maßstab . Die Lebensform der Würde, sagte ich in der Einleitung, ist eine Art, auf die Gefährdungen und Zumutungen des menschlichen Lebens zu antworten. Diese Antwort setzt ein gewisses Maß an Freiheit und Souveränität voraus. Wenn man Menschen so bedrängt, daß dieser Spielraum nicht mehr gegeben ist, erlischt jedes Ideal von Würde. Die Frage danach, könnte man sagen, stellt sich einfach nicht mehr. Und jedes Urteil darüber wird lächerlich.

Zerrissene Selbstachtung
     
    Wenn wir sagen möchten, daß Sophie ihre Selbstachtung zum Wohle des Kindes opfert, so heißt das: Die Selbstachtung ist von einem bestimmten Moment an kein Thema mehr für sie. Die Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Selbstachtung und dem Wunsch zu helfen wird hier auf radikale Weise aufgelöst. In vielen anderen Fällen bleibt die Spannung unaufgelöst bestehen: Der Betroffene möchte die eine Grenze der Selbstachtung, die mit ihm allein zu tun hat, nicht überschreiten und spürt doch in voller Klarheit, daß er damit ein anderes Gebot der Selbstachtung, das mit dem Wohl anderer zu tun hat, verletzt. So geht es Jones, dem ergrauten Ersten Offizier in Joseph Conrads Roman Lord Jim . Kapitän Brierly war, ohne daß jemand die Tat verstehen konnte, über Bord gesprungen. Jones hatte ihn in seiner hochfahrenden Art nicht gemocht und doch heimlich verehrt. »Ich möchte dafür einstehen, daß er, als er einmal über Bord war, nicht den geringsten Versuch machte zu schwimmen – genauso wie er den Schneid gehabt hätte, sich den ganzen Tag über Wasser zu halten, wenn er aus Versehen über die Reling gefallen wäre. Er stand keinem nach, wie ich ihn selber einmal sagen hörte.« Und Brierly hatte Jones in einem Brief an die Schiffahrtsgesellschaft als seinen Nachfolger empfohlen. Doch ein anderer wird Nachfolger, »ein kleiner Fatzke in graukariertem Anzug und mit in der Mitte gescheitelten Haaren«. Er macht den toten Brierly vor der Besatzung schlecht. Das kann Jones nicht mit anhören – es wäre mit seiner Selbstachtung nicht vereinbar. »›Ich bin vielleicht ein schwieriger Fall‹, antwortete ich, ›aber soweit ist es mit mir doch noch nicht gekommen, daß ich Ihren Anblick auf Kapitän Brierlys Stuhl ertragen könnte.‹ Ich verließ die Messe, packte meine Siebensachen und stand mit meinem ganze Seegepäck um mich her auf dem Kai, noch ehe sich die Schauerleute wieder an die Arbeit machten.« Er hat die Grenzen der Selbstachtung, die er für sich allein gezogen hatte, gewahrt. Doch er hat auch für andere eine Verantwortung, und auch sie gehört zu seiner Selbstachtung. »Ja – Treibholz – an Land – nach zehnjährigem Dienst – und mit einer armen Frau und vier Kindern sechstausend Meilen entfernt, die für jeden Bissen, den sie zum Mund führten, auf meinen Halbsold angewiesen waren. Ja, Herr! Ich gab lieber meine Stellung auf, als daß ich weiter mit anhörte, wir Kapitän Brierly verleumdet wurde.« Es geht, könnte man sagen, ein Riß durch diesen Mann, ein Riß der Selbstachtung: Um sich in der einen Hinsicht achten zu können, muß er etwas tun, für das er sich in anderer Hinsicht nicht wird achten können.
    Von einem solchen Riß könnte man auch bei einer anderen Figur sprechen: beim Kriminalkommissar Matthäi in Friedrich Dürrenmatts Novelle Das Versprechen . Er verspricht den Eltern eines mißbrauchten und getöteten Mädchens, den Täter um jeden Preis zu finden – »bei seiner Seligkeit«, wie der Text sagt. Der vermeintliche Täter, der nach einem endlosen Verhör gestanden hatte, erhängt sich kurz darauf in seiner Zelle. Matthäi zweifelt an seinem Geständnis. Sein Dienst bei der Zürcher Polizei ist jedoch mit diesem Tag zu Ende, er muß ins Flugzeug nach Jordanien, um eine neue Stelle anzutreten. Da trifft er auf der Rollbahn des

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