Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Entwicklung zu glauben. Doch in stillen Stunden weiß ich: Das neue Selbstbild und die neue Selbstachtung sind gekauft. Dann spüre ich die Würde bröckeln. Und ähnlich würde es mir ergehen, wenn ich meine Anschauungen gewechselt hätte, weil ich in eine Familie hineinheiraten wollte. Das ist die falsche Art von Motiv. Es ist Opportunismus.
Wie ist es, wenn es die emotionale Wucht einer Beziehung ist, die dazu führt, daß sich die inneren Grenzen des Möglichen verschieben? Wenn Liebe, Bewunderung oder Dankbarkeit zu einem Sinneswandel führen, der neue Dinge mit der Selbstachtung vereinbar macht? Es könnte sein, daß sich Bernhard Winter von einer neuen Liebe zu moralischen, politischen und ästhetischen Positionen verführen läßt, die ihm früher fremd waren. Er ist jetzt gegen Abtreibung und für Steuersenkung, und er schwärmt für Andy Warhol. Früher ist er abrupt aufgestanden, wenn er feststellte, daß sein Tischnachbar von der Boulevardpresse war. Jetzt geht er auf dessen Party, denn der Mann ist ein Freund der neuen Freundin. Er geht das erste Mal in die öffentliche Sauna. Er benutzt Wörter, die ihm früher nie über die Lippen gekommen wären. Wenn Sarah für den Besuch das Wohnzimmer aufräumte, tobte er. Jetzt macht er es selbst. Die Veränderungen sind nicht schnödes Kalkül. Die bestimmenden Gefühle sind echt. Trotzdem gibt es ein Problem, denn die Veränderung der Einstellung geht auf ein inneres Geschehen zurück, das mit den neuen Lebensthemen und Möglichkeiten selbst nichts zu tun hat. Es hat keine neue Urteilsbildung stattgefunden, sondern nur eine innere Verschiebung unter fremdem Einfluß. Auf diese Weise kann sich eine Kluft auftun zwischen dem, was man als möglich zuläßt, weil eine Beziehung und ihre Gefühle es verlangen, und dem, was man diesseits der Beziehung für Grenzen zieht. Wenn die Beziehung vorbei ist und Bernhard Winter zu den alten Maßstäben der Selbstachtung zurückgekehrt ist, wird er im Rückblick vielleicht sagen, daß es eine Verführung zum Würdeverlust war. »Ich war gar nicht richtig dabei«, könnte er sagen, »es war, als stünde ich neben mir. Hinterläßt ein dummes Gefühl.« Anders wäre es für ihn, wenn sich seine Einstellung zu den Dingen als Ergebnis von Überlegung, von neuen Erfahrungen und Reifungsprozessen verändert hätte. Wenn die linke Gesinnung der Studentenzeit langsam konservativeren Empfindungen gewichen wäre. Wenn er in Fragen der Kunst offener und im sozialen Umgang toleranter geworden wäre. »Ja, ja«, würde er lachen, »das war damals! Nie im Leben hätte ich das gemacht! Heute dagegen – ich fühle mich ganz wohl dabei.«
Und dann verliebt er sich von neuem, dieses Mal in eine Frau aus streng religiöser Familie. Man kennt kein Pardon: Tischgebete, Messe, Beichte, kirchliche Sterberituale, Lourdes. Was macht Winter, der Atheist? Sitzt er steif und stumm da, wenn das Gebet gesprochen wird? Oder murmelt er mit? Als Lippenbekenntnis – Worte ohne Überzeugung? Wie kann er zwischen Zugeständnissen unterscheiden, die seine Selbstachtung unbeschädigt lassen, und anderen, die auf keinen Fall gehen? Gibt es diese Unterscheidung hier? Kann er in der Messe knien, als eine Art Lippenbekenntnis? Sind Lippenbekenntnisse ungefährlich für die Selbstachtung? Sie sind ja nicht nur Bewegungen der Lippen; man sagt etwas, zumindest von außen gesehen. »Beichte – das ist der Inbegriff der Würdelosigkeit«, pflegte er zu sagen. »Das Motiv der Wahrhaftigkeit kann nach Würde aussehen. Aber: Es ist eine Offenbarung intimster Dinge einem Fremden gegenüber. Sie bedeutet Unterwerfung, denn sie ist verordnet. Sie geschieht mit dem widerwärtigen Zweck, sich von Schuld freizukaufen. Und sie trägt nicht das geringste zu einer inneren Entwicklung bei.« Ist es vorstellbar, daß so einer eines Tages den Beichtstuhl betritt?
Es müßte eine religiöse Bekehrung stattgefunden haben. Es ist schwer zu sagen, wie so etwas zustande kommt, und was genau es eigentlich ist . Die inneren Maßstäbe für sehr vieles verändern sich und damit die Erfahrungen der Selbstachtung. Wenn wir herausfinden, daß die neue Weltanschauung übernommen wurde, um sich gegen das Jüngste Gericht abzusichern: Finden wir das opportunistisch und damit würdelos? Gibt es das: einen Unterschied zwischen würdevoller und würdeloser Bekehrung? Was wäre das Kriterium?
Zerstörte Selbstachtung
Menschen können die Selbstachtung anderer Menschen zerstören. Es ist etwas
Weitere Kostenlose Bücher