Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
im Sinne der Selbstverantwortung um sich zu kümmern, ist etwas, was mehrere Dimensionen hat. In der einen geht es darum, für seine Gesundheit zu sorgen, seine Fähigkeiten zu entwickeln, gegen innere Zwänge und für größere Selbständigkeit zu kämpfen, ein wachsendes Verständnis für die Logik des eigenen Lebens zu entwickeln und diesem Leben einen Sinn und eine Richtung zu geben. Mißerfolge sind kein Problem für die Selbstachtung. In Gefahr gerät sie dann, wenn wir aufhören, auf diese Dinge zu achten und uns in diesem Sinne aufgeben . Und es geht nicht um fixe Maßstäbe. Obwohl es krank macht und lebensgefährlich sein mag, kann jemand entscheiden: So und nicht anders will ich leben. Die Selbstachtung liegt in der Wachheit der Entscheidung. Es ist diese Wachheit, die Jansen verlorengegangen war und die wiederkehrte, als er zu seinen Fähigkeiten zurückfand.
Sich um sich kümmern oder sich aufgeben: Diese Frage kann uns auch beschäftigen, wenn wir einen Bettler sehen. Wenn es in einem Land ist, in dem einer einfach Pech hat, wenn er auf der falschen Seite der Autobahn geboren wurde, sind die Empfindungen anders als in einem sozial fürsorglichen Land. Im rauhen Land werden wir ohne Zögern zum Bettler stehen, denn wir wissen: Hier kann es leicht geschehen, daß einem nur noch diese Möglichkeit bleibt, wie sehr man sich auch angestrengt hat. Hier gibt es die Würde des Bettlers: ungeschützt und mit offenem Blick dazu stehen, daß man es nicht geschafft hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Diejenigen, die vorbeigehen, wissen, wieviel das hier mit Glück oder Pech zu tun hat. Deshalb geben sie die Münze ohne Zögern. Eher zögern werden sie in einem Land, in dem es Arbeitsämter und Sozialhilfe gibt. Sie wissen, daß man trotzdem abstürzen kann. Aber sie werden sich fragen, ob der Bettler wirklich alles getan hat, was dazu gehört, die Verantwortung für sich zu übernehmen. Ob er sich nicht zu früh aufgegeben hat. Und was das für seine Selbstachtung bedeuten mag. Darüber hinaus kann einen beim Anblick eines Bettlers noch eine andere Frage beschäftigen: Ist es würdelos von der Bettlerin, wenn sie ihr zerlumptes Kind in Szene setzt, um Mitleid zu erregen? Oder kann das Teil des würdevollen Eingeständnisses von Bedürftigkeit sein? Was ist der Unterschied zwischen: sich würdevoll in seiner Schwäche zeigen, und: seine Schwäche würdelos inszenieren?
Zur Verantwortung, die einer für sich selbst hat, gehört, daß er zu sich steht : zu seinen Überzeugungen, seinen Gefühlen, seinem Willen und seiner ganzen Art zu leben. Das bedeutet die Fähigkeit und den Mut, sich gegen andere abzugrenzen . Und das wiederum bedeutet die Stärke, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen. Selbstachtung hat hier mit Furchtlosigkeit zu tun. Wir haben Bernhard Winter als einen Mann kennengelernt, der seinem Verstand traut. Darin hat er keine Mühe, sich abzugrenzen und zu sich zu stehen. Anders könnte es sein, wenn es um Gefühle geht, um Nähe und Distanz in persönlichen Beziehungen. Da ist er leicht unter Druck zu setzen. Vielleicht ist er als Student in eine Wohngemeinschaft geraten, wo Drogen zum guten Ton gehörten. Es war schwer abzulehnen und dem Spott standzuhalten. Es tat gut zu erleben, daß er es konnte. Dieser kleine Sieg der Selbstachtung war etwas, woran er oft zurückdachte, wenn es darum ging, in seiner Ehe oder in Freundschaften schwierige Dinge anzusprechen. Er spürte, wie seine Selbstachtung litt, wenn er um des Friedens und der Harmonie willen einem Konflikt stets von neuem aus dem Weg ging, ihn vertuschte und verleugnete. Wir sind ihm begegnet, als er beim heimlichen Blick ins Krankenzimmer eine wippende und pfeifende Sarah entdeckte – eine so ganz andere Frau als die, die er zu kennen meinte. Als er draußen seit Jahren die erste Zigarette rauchte, spürte er, daß er würde herausfinden müssen, was seine Entdeckung bedeutete. Und daß das zu einer Frage der Selbstachtung würde.
Wenn einer sich entschließt, gegen Widerstände zu sich zu stehen, kann das einen großen, gefährlichen Konflikt bedeuten. Wie wenn ein Dissident, der der Geheimpolizei nur knapp entkommen war, aus Gründen der Selbstachtung und um der Stimmigkeit seines Lebens willen aus dem Exil zurückkehrt. Doch die Selbstachtung in diesem Verständnis kann auch bei Dingen auf dem Spiel stehen, die auf den ersten Blick lächerlich klein erscheinen mögen. Leonard Bernstein war am Beginn seiner Karriere als Dirigent enorm
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