Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Flughafens eine folgenschwere Entscheidung: »Die Stewardeß, die die Reisenden zur Maschine geführt hatte, hielt die Hand hin, um Matthäis Karte in Empfang zu nehmen, doch der Kommissär wandte sich aufs neue um. Er schaute auf die Kinderschar, die glücklich und neidisch zu der startbereiten Maschine hinüberwinkte. ›Fräulein‹, sagte er, ›ich fliege nicht‹, und kehrte ins Flughafengebäude zurück, schritt unter der Terrasse mit der unermeßlichen Schar der Kinder hindurch dem Ausgang zu.« Der Anblick der Kinder hat Matthäi klargemacht, daß er den wirklichen Täter finden muß – so, wie er es der Mutter versprochen hat. Es ist eine Frage der Selbstachtung. Nicht so sehr als Polizist – er ist nicht mehr im Dienst. Vielmehr als einer, der ein feierliches Versprechen gegeben hat. »Das bin ich mir einfach schuldig«, würde er vielleicht sagen. Doch man erklärt Matthäi, es sei zu spät, er könne nicht zurück in den Dienst. Damit beginnt eine Geschichte, in deren Verlauf er zum Trinker wird und alles verliert, auch seine moralische Integrität. Aus einer Kinderzeichnung schließt er, daß der Täter aus dem Graubünden stammt. Und so pachtet er auf der Strecke zwischen Chur und Zürich eine Tankstelle und wartet, daß der Täter vorbeikommt. Früher der beste Mann der Zürcher Polizei, sitzt er nun trinkend vor der Tankstelle, raucht und stiert vor sich hin, tagelang, wochenlang. Wegen jenes Versprechens. Weil er denkt, das sei er sich schuldig. Und dafür ist er bereit, etwas zu tun, was er sich nie hätte träumen lassen: Er tut sich mit einer Prostituierten zusammen und benutzt ihr Kind als Lockvogel. Er benutzt die beiden als bloße Mittel zum Zweck und tut damit etwas beispielhaft Unmoralisches. Etwas, was jenseits der Grenzen seiner moralischen Selbstachtung liegt, wie er sie bisher kannte. »Sie sind ein Schwein«, sagt die Mutter des Kindes nachher. Was Matthäi tut, ist grausamer als das, was Jones, der Seemann, seiner Familie antut. Oder doch auf andere Weise grausam. Aber man könnte auch hier von einem Riß sprechen, der durch den Kommissar hindurchgeht: Er versucht, sich auf die eine Weise treu zu bleiben und verrät sich damit auf eine andere Weise.
Verantwortung für sich selbst
Die Selbstachtung kann man nicht nur verlieren, indem man etwas tut, was eine innere Grenze überschreitet. Man kann sie auch verlieren, weil man nicht bereit ist, die Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen. In Jean-Paul Melvilles Film Vier im roten Kreis planen zwei Ganoven einen Einbruch in ein Juweliergeschäft. Das Problem sind die Lichtschranken der Alarmanlage. Man müßte sie durch einen einzigen, präzisen Schuß aus größerer Distanz außer Kraft setzen. Da erinnern sich die beiden an den ehemaligen Polizisten Jansen, einen Scharfschützen. Er hat sich vollständig gehen lassen: Er haust in einer Bruchbude, ist dem Alkohol verfallen, sieht Käfer und Schlangen, die im Wandschrank zu wohnen scheinen. Die Ganoven bieten ihm ein Drittel der Beute, wenn er mitmacht. Er rafft sich auf, hört auf zu trinken, übt Schießen, gießt Spezialmunition und bringt sich in Form. Das zentrale Schloß für die Lichtschranken ist weit weg, und der erste Schuß muß sitzen. Deshalb bringt Jansen am Abend des Einbruchs ein Stativ mit. Er justiert das Gewehr auf dem Stativ. Zum Entsetzen der anderen löst er es im entscheidenden Augenblick ab, schießt freihändig und trifft. Er hat sich und den anderen bewiesen, daß er wieder so gut ist wie früher. Er holt einen Flachmann hervor, riecht daran und steckt ihn unbenutzt zurück. Er verzichte auf seinen Anteil, sagt er dem einen Partner. Als der protestiert, winkt er ab: »Ohne dich hätte ich nie Rache nehmen können an den Bewohnern des Wandschranks«, sagt er. Es ist, als sagte er: Du hast mir etwas zurückgegeben, was viel wichtiger ist als Geld: meine Selbstachtung.
Jansen war die Verantwortung für sich und sein Leben entglitten. Er hatte dabei die Würde im Sinne der Selbständigkeit verloren, von der im ersten Kapitel die Rede war. Auf dem Wege in diesen Verlust muß er gespürt haben, daß er nicht einfach das wehrlose Opfer eines unkontrollierbaren Geschehens war, das Opfer eines inneren Erdrutsches. Er muß gespürt haben, daß er es versäumte , etwas zu tun, was durchaus in seiner Macht gestanden hätte: sich um sich zu kümmern . Und daß er mit diesem Versäumnis außer der Selbständigkeit noch seine Selbstachtung verspielte.
Sich
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