Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Folterknecht von Big Brothers Regime, hat Winston, sein Opfer, durch Folter so weit von sich selbst entfremdet, daß er bereit ist, zwei plus zwei für fünf zu halten. Winston hat auf die Demütigung so reagiert, wie wir es im ersten Kapitel beschrieben haben: durch einen Rückzug in die innere Festung. »Er gehorchte der Partei, aber er haßte die Partei immer noch«, schreibt Orwell. »Früher hatte er eine häretische Einstellung unter scheinbarem Konformismus versteckt. Jetzt hatte er sich einen Schritt weiter nach innen zurückgezogen: Im Geist hatte er sich ergeben, aber er hoffte, das innerste Herz vor der Zerstörung schützen zu können … Zum ersten Mal wurde ihm klar: Wenn man ein Geheimnis bewahren will, muß man es sogar vor sich selbst verstecken … Er mußte seinen Haß in sich verschlossen halten wie einen Klumpen Materie, der Teil von ihm war und doch unverbunden mit den übrigen Teilen, eine Art Zyste …« Selbst wenn sie ihn erschössen: »Der häretische Gedanke bliebe unbestraft, unbereut, für immer außerhalb ihrer Reichweite. Im Haß auf sie zu sterben – das war Freiheit.« Das ist der Gedanke, durch den er einen Rest von Selbstachtung erleben kann. Und noch etwas gehört zu dieser Achtung: der heilige Vorsatz, Julia, seine einstige Geliebte, unter keinen Umständen zu verraten. Das ist die letzte, die allerletzte Grenze, die er niemals überschreiten würde. Doch dann wird er in Raum 101 gebracht, den innersten Kreis der Hölle. Dort läßt O’Brien ausgehungerte Ratten auf das Gesicht seiner Opfer los. Nur eines kann Winston vor dieser Marter retten: Er muß ihnen Julia an seiner Stelle anbieten. »Plötzlich verstand er, daß es auf der ganzen Welt nur eine Person gab, auf die er seine Strafe verlagern konnte – einen Körper, den er zwischen sich und die Ratten werfen konnte. Und er schrie, außer sich und stets von neuem: ›Machen Sie es mit Julia! Nicht mit mir! Mit Julia! Es ist mir egal, was Sie mit ihr machen. Reißen Sie ihr das Gesicht weg, schälen Sie sie bis auf die Knochen. Nicht mich! Julia! Nicht mich!‹« Es gibt, denkt Winston später, Dinge, von denen man sich nicht erholen kann: die eigenen Taten. »Etwas wird in der Brust getötet: ausgebrannt, verätzt.« Später treffen sich Winston und Julia. Beide gestehen sie sich: »Ich habe dich verraten.« Und sie sagen: »Danach empfindet man für den anderen nicht mehr dasselbe.« Orwell schreibt: »Weiter gab es nichts mehr zu sagen.«
Geopferte Selbstachtung
In William Styrons Roman Sophie’s Choice leckt Sophie, eine Gefangene von Auschwitz, dem Lagerkommandanten, Rudolf Höss, die Stiefel. Es ist unerträglich, das zu lesen, und man spürt den Impuls, das Buch vor Entsetzen und Ekel in die Ecke zu schleudern. Das durfte einfach nicht passieren. Aus Höss’ Büro sieht man hinüber zu den Krematorien von Birkenau, über denen in jedem Moment der Rauch von Tausenden vergaster und verbrannter Juden hängt. Es ist Höss, der diese Todesfabrik leitet. Es ist eine unerträgliche Vorstellung, daß jemand die Stiefel irgend eines anderen leckt, und beim Gedanken, es selbst tun zu müssen, erstarrt man vor Entsetzen. Aber es ist schlechterdings undenkbar, diesem Mann die Stiefel zu lecken. Es gibt, so will man ausrufen, keine, absolut keine Umstände , unter denen das mit der Würde eines Menschen verträglich wäre. Wenn Sophie es doch tut, verspielt sie ihre Würde in einer Weise, die durch nichts mehr zu übertreffen ist. Es ist der absolute Verlust der Selbstachtung. Es ist der absolute Würdeverlust.
Doch die Dinge sehen einfacher aus, als sie sind. Man muß sich die Situation in allen Einzelheiten vergegenwärtigen, um das erste, intuitive Urteil, das so eindeutig und übermächtig ist, zu prüfen. Sophie ist keine Jüdin, sie ist in Auschwitz, weil sie Polin ist. Höss hat sie ausgewählt, weil sie Deutsch, Stenographie und Schreibmaschine kann. Sie schreibt nach Diktat und darf dafür in seinem Keller wohnen, sie bekommt mehr Schlaf als sonst, sie kann für sich sein und bekommt Reste zu essen – in Auschwitz ein unerhörter Luxus. Und sie kann einer lesbischen Aufseherin entfliehen, die sie vergewaltigt hat. Der Gewalt, dem Hunger und allen anderen unmenschlichen Umständen entfliehen können – das läßt Sophie begierig nach dieser Arbeit greifen. Es sind Gründe, die jeder versteht und achtet, und deshalb wird niemand es unverständlich finden, wenn sich Sophie bei Höss an den Schreibtisch setzt und
Weitere Kostenlose Bücher