Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
vom Grausamsten, was sie tun können. In seinem Theaterstück Der Besuch der alten Dame erzählt Friedrich Dürrenmatt von einer solchen Grausamkeit. Es ist die Geschichte einer Rache. Klara Wäscher, damals ein junges Mädchen, wird von Alfred Ill schwanger. Er leugnet vor Gericht, der Vater zu sein. Er kauft zwei Zeugen, die beschwören, mit Klara Wäscher geschlafen zu haben. Die Klage wird abgewiesen. »Ich wurde eine Dirne. Das Urteil des Gerichts machte mich dazu«, sagt die Frau. Sie lernt, daß alles eine Frage des Geldes ist. Sie kauft alles: Bordelle, Firmen, Menschen. Als alte, kranke Frau von ungeheurem Reichtum, die sich jetzt Claire Zachanassian nennt, kehrt sie nach Güllen zurück, in den Ort ihrer damaligen Schande. Sie will Gerechtigkeit, man könnte auch sagen: Rache für Ills damaligen Verrat und das erlittene Unrecht. Zu den Einwohnern von Güllen sagt sie: »Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit.« »Die Gerechtigkeit kann man doch nicht kaufen!«, sagt der Bürgermeister. »Man kann alles kaufen«, sagt Claire. »Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet.« »Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab« sagt der Bürgermeister. »Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.«
Das ist die Reaktion der Selbstachtung, wie wir sie besprochen haben: Es gibt Grenzen für das, was wir zu tun bereit sind. Wir sind nicht käuflich. »Ich warte«, sagt die alte Dame trocken. Das Warten trägt Früchte. Die Güllener kaufen teurer ein als bisher – Essen, Kleider, Mobiliar. Alles auf Kredit. Die Milliarde wird ja kommen. Ill erkennt das nahende Verhängnis und spürt bei jedem Anzeichen des neuen Wohlstands, wie der Tod näher kommt. Nach langem innerem Kampf sagt er zum Bürgermeister: »Ihr müßt nun meine Richter sein. Ich unterwerfe mich eurem Urteil, wie es nun auch ausfalle. Für mich ist es die Gerechtigkeit, was es für euch ist, weiß ich nicht. Gott gebe, daß ihr vor eurem Urteil besteht. Ihr könnt mich töten, ich klage nicht, protestiere nicht, wehre mich nicht, aber euer Handeln kann ich euch nicht abnehmen.« Dürrenmatt läßt Ill sterben. Die alte Dame hält Wort. Das Geld fließt.
So, wie Dürrenmatt die Geschichte erzählt, ist es vor allem eine Geschichte über eine Rache an Ill, eine Rache durch Tötung. Darüber hinaus rächt sich die alte Dame auch an den Einwohnern von Güllen: Sie verführt sie dazu, ihre Selbstachtung und also ihre Würde zu verspielen. Man könnte sich eine Fassung des Stücks vorstellen, in der es ausschließlich ein Stück über Rache als Zerstörung von Selbstachtung wäre. Nach der Abstimmung, in der die Güllener einstimmig Ills Tod beschließen, könnte Claire sagen: »Das ist alles, was ich erreichen wollte: daß ihr euch alle als käuflich erweist und damit jegliche Selbstachtung verspielt. Alfred Ill – mein Gott, den will ich doch nicht tot sehen. Sicher, er hat mich verraten, aber er war doch damals noch keine zwanzig, ein halbes Kind, er hatte panische Angst vor dieser Verantwortung. Das war schlimm für mich, aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, wie ich in Güllen, diesem elenden Kaff, nach der Gerichtsverhandlung behandelt wurde: als Hure, als der letzte Dreck. Es ist diese Demütigung, für die ich mich rächen wollte. Und bei Gott, es ist mir gelungen: Ihr alle, die ihr Alfred aus purer Geldgier töten wolltet – ihr alle habt etwas verloren, was wichtiger ist als das Leben: eure Würde. Ihr müßt nun mit ihm weiterleben, Tag für Tag. Ihr müßt seinem Blick standhalten, der jedesmal, wenn er euch streift, sagt: Du hast keine Selbstachtung, du würdest für Geld alles tun, einfach alles, du bist ein käufliches, würdeloses Nichts. Und außerdem müßt ihr noch eure Schulden zurückzahlen, denn von mir bekommt ihr keinen Rappen. Grenzenlosen Opportunisten gegenüber, wie ihr es seid, fühle ich mich an kein Versprechen gebunden. Ich habe euch bewiesen, was für ein erbärmliches Pack ihr seid. Meine Verachtung ist grenzenlos. Und mögt ihr an Ills Verachtung ersticken, jeden Tag ein bißchen mehr!«
Die alte Dame zerstört die Selbstachtung der Leute von Güllen, indem sie sie zu grenzenlosem Opportunismus verführt: dazu, alle inneren Grenzen zu überschreiten. Es ist Zerstörung durch Verführung. Es gibt eine andere Zerstörung: diejenige durch Angst und Schmerz. Niemand hat sie grausamer beschrieben als George Orwell. O’Brien, der oberste
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