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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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haben, wie sie Subjekte auszeichnet. Wesen, die nicht als Getriebene wehrlos dem Diktat ihrer Wünsche ausgeliefert sind. Wesen, die Herr über sich selbst sind und nicht Sklaven ihrer Wünsche. Wesen also, die selbst darüber bestimmen können, welche Wünsche sie in Handlungen münden lassen. Das bedeutet: Die Erfahrung moralischen Entscheidens und Verzichtens ist die Erfahrung der selbstbestimmenden Distanz und Kontrolle. Nicht die einzige Erfahrung dieser Art, aber doch jedes Mal eine Bestätigung dieser Fähigkeit und also eine Erfahrung der inneren Freiheit.
    Aber ist das nicht eine trügerische oder gar betrügerische Beschreibung der moralischen Erfahrung? Wenn ich mich von fremden Bedürfnissen bestimmen lasse: Bedeutet das nicht in jedem Fall einen Verlust an Selbstbestimmung? Führt es nicht in jedem Fall von mir weg? Muß es nicht zwangsläufig eine Erfahrung der Selbstentfremdung sein? So erleben wir es, wenn der Grund für das moralische Tun die Angst vor einer äußeren Autorität und ihrer Strafe ist: die Angst vor Gottes Zorn, vor den Sanktionen einer religiösen Institution oder vor gesellschaftlicher Ächtung. Dann sind wir im moralischen Entscheiden wie Knechte. Nicht viel anders ist es, wenn die Angst eine Angst vor einer verinnerlichten Autorität ist: vor der Stimme des Gewissens, aus der die Stimme lebensbestimmender Personen spricht. Jetzt sind wir Knechte durch und vor uns selbst. In beiden Fällen treffen wir die moralische Entscheidung nicht, weil wir selbst es wollen, sondern weil wir uns gezwungen fühlen. Selbstbestimmung gibt es nur noch in dieser Form: entscheiden, ob man sich der inneren Erpressung beugen will oder nicht, ob man Gewissensbisse riskieren will oder nicht. Aber es ist eine Erfahrung innerer Versklavung. Das moralische Tun entspringt gar nicht spontanem moralischen Empfinden und ist deshalb nicht echt . Und weil es nicht aus spontaner moralischer Sensibilität entsteht, die auf die Nuancen einer Situation reagiert, ist es ein Tun, das sich an Regeln und einem Kanon von Pflichten, Imperativen und Maximen orientieren muß, denn eine andere Orientierung gibt es nicht. Die Bürokratie der inneren Erlasse und Vorschriften wird zwanghaft abgearbeitet, es ist dann, als trügen wir als moralisch Handelnde abgewetzte Ärmelschoner und beugten uns mit verkniffenen Lippen freudlos und voller Gram über die verstaubten Akten des moralisch Verbotenen und Gebotenen.
    Doch so muß man die moralische Erfahrung nicht auffassen, und meistens wird sie so auch nicht erlebt . Wer moralisch urteilt und entscheidet, tut es aus einer Sensibilität heraus, die im Laufe eines Lebens wächst und sich, wie jede Sensibilität, durch Versuch und Irrtum entwickelt und verfeinert. Anders als der bürokratische Blick auf einen Katalog moralischer Vorschriften ist sie auf die detailgenaue Wahrnehmung von Situationen abgestimmt und trägt der Tatsache Rechnung, daß moralisch gewichtige Situationen sehr dichte Situationen sind und daß keine der anderen gleicht. Geleitet wird die moralische Sensibilität von einer Erfahrung, die zu den kostbarsten gehört, die wir kennen: der Erfahrung moralischer Intimität . Sie beruht auf der besonderen Art, in der sich Subjekte begegnen können. Davon war im zweiten Kapitel die Rede. In einer solchen Begegnung, sagte ich dort, verschränken sich die Beteiligten innerlich auf vielfältige Weise. Ihre Gedanken und Gefühle gelten den Gedanken und Gefühlen des anderen, und in ihren Wünschen und Bedürfnissen sind die Wünsche und Bedürfnisse des anderen gegenwärtig. Und noch auf andere Weise können wir uns miteinander verschränken: indem wir uns vorstellen, wie es wäre, in der Lage des anderen zu sein. Es muß nicht dabei bleiben, daß wir uns eine Erlebnisgeschichte aus neutraler Distanz heraus anhören. Wir können den Versuch machen, sie nachzuvollziehen und uns zu fragen, was wir in der fremden Lage erleben würden. Dann lassen wir unser Einfühlungsvermögen spielen, unsere soziale Phantasie. Und es wird nicht beim Nachvollziehen bleiben. Wir werden auf das, was wir uns am fremden Erleben vergegenwärtigt haben, im eigenen Erleben und Tun antworten, und diese Antwort wird im anderen fortwirken. Nun sind wir in das Leben des anderen verwickelt. Die Beziehung ist geworden, was ich eine engagierte Begegnung genannt habe, eine Beziehung, in der es eine Hitze der Wechselseitigkeit gibt. Wir nehmen, wie wir zu sagen pflegen, am Leben des anderen Anteil .
    Diese

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