Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
moralisch, damit ich mir gut vorkomme: als einer, der so tugendhaft ist, so selbstlos, so integer. Es kann sein, daß es mir in dieser Selbstgefälligkeit vor allem um das Urteil der anderen geht. Wie wenn ich dafür sorge, daß sie sehen, wie ich dem Bettler Geld gebe, oder wenn ich meine weitläufigeren Wohltätigkeiten und Verzichte öffentlich mache. Doch moralische Selbstgefälligkeit gibt es auch im stillen: als das genossene Bewußtsein, die anderen in Selbstlosigkeit übertroffen zu haben. Nun kann ich mich im Inneren über sie erheben als der bessere.
Was stört daran? Das moralische Tun wird dadurch vor allem zum Mittel, um das Gefühl für den eigenen Wert zu steigern. Scheinbare Selbstlosigkeit als grenzenlose Selbstbezogenheit. Moral als Ego-Trip. Das ist paradox und kann pervers anmuten: In einem Tun, in dem es angeblich ganz um den anderen geht und gerade nicht um mich, geht es nun doch nur um mich. Diejenigen, denen das moralische Tun gilt, sind nur die Spielwiese für meinen Narzißmus, und die narzißtische Umwendung des moralischen Motivs zersetzt die moralische Erfahrung. »Aber es muß beim moralischen Tun auch etwas geben, wovon ich selbst etwas habe – sonst könnte ich mich einfach nicht dazu bringen, es zu tun!« Gibt es ja auch: die Erfahrung der selbstbestimmten moralischen Intimität ohne Selbstbespiegelung – einfach nur die Erfahrung selbst als etwas Gutes, was ich mir auf keinem Konto gutschreibe und was in keiner inneren Bilanz erscheint. Das gehört zur moralischen Würde.
Zu ihr gehört auch die Fähigkeit zur Loyalität . Ich verstehe das Wort als Titel für ein langfristiges Engagement. Es ist nicht nur längerfristig als ein momentanes moralisches Tun, sondern auf eine Art abstrakter: weiter weg von den Turbulenzen heftigen moralischen Empfindens. Es haftet ihr, könnte man sagen, etwas Unbedingtes, Absolutes an, und sie ist nicht so sehr ein Empfinden als eine Einstellung, eine Haltung. Man könnte von einer Parteinahme der Seele sprechen. Etwas aus dieser Art von Loyalität heraus tun, bedeutet: es nicht stets erneut befragen und an der momentanen moralischen Empfindlichkeit messen. Auch ist Loyalität eine Haltung, die jedem moralischen Aufrechnen entzogen ist. Sie gilt weiter, selbst wenn die gewöhnliche Bilanz des moralischen Tuns zu den eigenen Ungunsten ausfällt. Sie ist verwurzelt in langer gemeinsamer Erfahrung, die Leben der Beteiligten haben sich überschnitten und überlappt, der eine ist aus dem Leben des anderen nicht wegzudenken. Sie kommt durch eine Verbundenheit zustande, wie sie nach einer langen Ehe, Freundschaft, vielleicht auch Nachbarschaft entsteht, aus einer Gemeinschaft im Beruf, im Engagement für eine politische Sache. Die Haltung lautet: Gegeben unsere lange gemeinsame Geschichte, stehe ich zu ihm – was immer sonst gewesen sein mag. Loyalität kann trotzdem auch zerbrechen. Aber es braucht mehr als einen Interessenkonflikt, auch mehr als eine momentane moralische Meinungsverschiedenheit. Es muß etwas sehr Schwerwiegendes sein: ein folgenreicher Verrat, eine ideologische Verblendung oder kriminelle Verstrickung. Dann bricht die Loyalität weg, weil ein ganzes Stück Leben wegbricht. Noch in der Fremdheit und Kälte, die zurückbleiben, ist die Tiefe der einstigen Loyalität spürbar.
Würde in Schuld und Vergebung
Wir können an anderen Menschen schuldig werden. Wir können Schuld auf uns laden. Was macht die Schuld mit unserer Würde? Was macht unsere Würde mit der Schuld? Worin könnte die Würde des Opfers bestehen?
An jemandem schuldig zu werden, bedeutet, ihm Leid zuzufügen. Das Bewußtsein der Schuld ist das Bewußtsein, moralische Intimität zerstört zu haben. Und wenn das Leid beim anderen eine Zerstörung seiner Würde bedeutet, ist es das Bewußtsein, die moralische Würde verloren zu haben. Wir sind verstört, wenn wir so gehandelt haben – verstört durch uns selbst. Das Gefühl dieser Verstörung ist das Gefühl der Schuld. In ihm fließen verschiedene Empfindungen zusammen: Wir haben Erwartungen der Rücksichtnahme enttäuscht und anerkennen die Berechtigung der Enttäuschung; wir spüren, daß wir uns durch die Tat isoliert und die bisherige Anerkennung der anderen verloren haben; wir wissen, daß ihr guter Wille in Ablehnung umschlagen wird, daß Groll entstehen wird und ein Bedürfnis nach Vergeltung; und nicht nur rechnen wir mit dieser Reaktion, wir finden sie auch angemessen. All das läßt uns wünschen, wir
Weitere Kostenlose Bücher