Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Anteilnahme kann verschiedene Formen annehmen. Die eine ist die moralische Intimität: die besondere Nähe, die entsteht, wenn ich mir die Bedürfnisse des anderen zu eigen mache und die eigenen Wünsche zurückstelle. Dadurch werden wir füreinander auf eine Weise wichtig , die es ohne moralische Intimität nicht gibt. Für ihn ist es eine Wichtigkeit jenseits von Dankbarkeit, und für mich bedeutet sie keine Selbstlosigkeit im Sinne einer Aufopferung, die von mir nichts übrigließe. Überhaupt ist die Sprache von Dank und Opfer der Erfahrung nicht angemessen. Eher schon die Sprache der Verbundenheit, des geteilten Lebens und der Solidarität, die das Leben reicher machen und ihm Tiefe geben. Und die Erfahrung kann man in ihrem wirklichen Gehalt nur erkennen, wenn man die Vorstellung einer moralischen Autorität und einer Akteneinsicht in Gebotenes und Verbotenes beiseite läßt. Wenn ich für den Kranken nur deshalb auf etwas verzichte, weil ich damit einem moralischen Kanon gehorche, dann entsteht nicht die moralische Intimität, die ich mir wünsche. Sie wird am Entstehen gehindert, weil der Verzichtswunsch nicht meiner war, sondern ein verordneter, einer, der über mich verhängt wurde. Zwischen mich und die moralische Intimität schiebt sich der Groll über den Verzicht, der nicht aus mir selbst kam. Die moralische Intimität wird zersetzt, noch bevor sie entstehen konnte.
Im moralischen Bewußtsein, wie ich es beschrieben habe, fließen diese beiden Dinge zusammen: die Erfahrung der Selbstbestimmung und die Erfahrung der moralischen Intimität. Sie zusammen machen den Wert des moralischen Tuns aus. Die beiden Erfahrungen treten nicht nur zusammen auf, sie sind ineinander verwoben: Die moralische Intimität wird als wertvoll erlebt, weil sie Ausdruck der Freiheit ist, und wenn wir den selbstbestimmten Verzicht suchen, dann deshalb, weil er die besondere Nähe der moralischen Intimität schafft. Und dieser Zusammenhang besteht nicht nur als eine abstrakte gedankliche Einsicht: Er wird erlebt . Wenn wir überhaupt sagen möchten, daß Moral auf etwas gegründet ist, dann ist es dieser erlebte Zusammenhang. Doch vielleicht sollten wir so gar nicht reden. Vielleicht sollten wir einfach sagen: Wir wollen aus dieser Erfahrung heraus leben, weil es eine gute, eine wertvolle und glückliche Art ist zu leben. Weil wir gern Mitglied einer Gemeinschaft sind, die so leben will.
Moralische Würde
Wenn wir die Würde anderer Menschen verletzen, können wir damit auch unsere eigene beschädigen. Das ist es, was die Einwohner von Güllen beim Besuch der alten Dame erleben. Nachdem sie Alfred Ill dem Mammon geopfert, ihn gedemütigt und schließlich getötet haben, stehen sie am Ende selbst ohne jede Würde da. Sie haben sie nicht nur im Sinne der Selbstachtung verloren, sondern auch im Sinne der moralischen Integrität: als die selbstverständliche Bereitschaft, auf das Leben und die Bedürfnisse eines anderen Rücksicht zu nehmen.
Von diesem Zusammenhang zwischen eigener und fremder Würde war in der Einleitung schon die Rede. Er besteht, weil Würde, verstanden als Lebensform, nicht etwas ist, was wir in Isolation erleben. Wir erleben sie als soziale Wesen, die das, was sie sind, auch durch die Art und Weise werden, wie sie andere behandeln. Moralische Intimität ist in diesem Sinne eine Quelle von Würde: Dadurch, daß ich andere in ihren Bedürfnissen achte und mein Tun danach ausrichte, erwerbe ich eine Form der Würde, die man moralische Würde nennen könnte. Es ist eine Würde, die der gänzlich Amoralische, wenn es ihn denn gäbe, nicht kennte: Ihm wäre die ganze Dimension des Überlegens und Fühlens, die dazugehört, fremd. Jean-Claude Romand, der sich in den stummen Wäldern des Juras verlor, war die moralische Würde trotz aller Lebenslügen nicht insgesamt fremd: Aus vielem, was er seinen Angehörigen gegenüber tat, sprach die Fähigkeit zu moralischer Intimität; oder schien daraus zu sprechen. Was seine Tat so unfaßbar macht, sind die Plötzlichkeit und Kälte, mit denen jeder Rest von moralischer Würde ausgelöscht wurde. »Ich weiß«, sagte er in seinem Schlußwort vor Gericht, »daß das Schweigen eigentlich das einzige ist, was mir bleiben sollte.«
Doch unter moralischer Würde kann man noch mehr verstehen als die Fähigkeit und Bereitschaft zu moralischer Intimität. Sie ist eine besondere Form der moralischen Integrität: diejenige, bei der es nicht um irgendwelche Interessen anderer geht,
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