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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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sondern um Bedürfnisse, die mit dem Kern ihrer Würde zu tun haben: das Bedürfnis nach Selbständigkeit, nach echten Begegnungen, nach geschützter Intimität und Verstehen, nach Wahrhaftigkeit und Selbstachtung. Es gibt viele Arten der Rücksichtslosigkeit, die einen empören können, ohne daß man sagen würde, daß sie die Opfer in ihrer Würde verletzen. Man kann getreten, bestohlen, betrogen, belogen und verraten werden, ohne daß das eine Demütigung bedeuten muß, die die Würde gefährdet. Die Täter verlieren dabei zwar einen Teil ihrer moralischen Integrität, aber nicht ihre moralische Würde im Sinne der Worte, wie ich sie hier verwende. Das geschieht erst, wenn sie den Opfern ihre Würde nehmen. Wie Kommissar Matthäi, der das Kind der Frau als Lockvogel, als bloßes Instrument der Fahndung, mißbraucht. Wie der Folterknecht O’Brien, der Winston dazu bringt, sogar Julia zu verraten. Wie Romand, der die Menschen, mit denen er lebt, um Wahrhaftigkeit und echte Begegnung betrügt. Jetzt geht die moralische Integrität nicht nur irgendwie verloren. Sie wird als moralische Würde verspielt.
    Es gibt Gesetze, mit denen ein Staat die Würde seiner Bürger zu schützen und zu verhindern versucht, daß andere sie zerstören und dabei ihre moralische Würde verlieren. Das kategorische Verbot der Folter ist ein Beispiel, das Verbot von Zwergenwurf und Peep-Shows ein anderes. Und auch das Bundesverfassungsgericht hatte diesen Schutz im Auge, als es den vorbeugenden Abschuß von Passagiermaschinen verbot, die als Waffe in Hochhäuser gelenkt werden könnten. Der Staat, argumentierten die Richter, würde die Passagiere, indem er ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt, als bloße Objekte behandeln. »Eine solche Behandlung mißachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten.« Im Zuge des Gedankens, der hier vorgestellt wird, könnte man ergänzen: Es gilt auch die moralische Würde derer zu schützen, die schießen müßten. So wie man die Piloten von Hiroshima und Nagasaki hätte schützen müssen.
    Die moralische Würde eines Täters wird zerstört, wenn seine Tat grausam ist. Es gibt vieles, was grausam ist. Wirkliche Grausamkeit aber besteht darin, jemanden in seiner Würde zu beschädigen. Wie wenn wir jemanden in Armut und Abhängigkeit stoßen oder auch in eine Sucht treiben, durch die er sich gedemütigt fühlt. Oder wenn wir ihn in seiner Schuld und Scham durch den Dreck der Boulevardpresse schleifen. Oder ihn ein Leben lang belügen. Oder durch Folter in seiner Selbstachtung zerstören. Schon das allein bedeutet für uns einen Verlust der moralischen Würde. Der Verlust kann jedoch noch tiefer und umfassender werden: wenn wir die Grausamkeit um ihrer selbst willen begehen statt als Mittel zum Zweck. Die Drogenbosse und die Boulevardpresse wollen Geld, deshalb handeln sie grausam. Romand mordete, weil er mit seinen Lügen nicht auffliegen wollte. Und selbst O’Brien verfolgt mit der Folter ein Ziel: daß Winston sich mit Big Brothers’ Staat identifiziert und die allgegenwärtigen Augen schließlich sogar liebt. All das ist noch nicht die letzte Stufe im Verlust der moralischen Würde. Sie ist erst dann erreicht, wenn jemand einen anderen einfach deshalb grausam behandelt, weil er ihn gerne leiden sieht . Dann ist sein Wille ein Wille, der die Grausamkeit als solche, das Übel als solches will. Wenn das Wort nicht einen metaphysisch dubiosen Klang hätte, könnte man sagen: Es ist ein böser Wille.
    Im ersten Kapitel habe ich Demütigung als eine Ohnmacht beschrieben, die der Täter vor dem Opfer sichtbar genießt. Wie wenn der Dealer den Süchtigen betteln läßt und dabei grinst. Oder wenn ein Publikum jemanden wegen einer Mißbildung oder einer beschämenden Schwäche auslacht und sich dabei noch am eigenen Grölen ergötzt. In diesem Genuß verlieren die Täter ihre moralische Würde, wie ich sie hier verstehe. Jelzin demütigte den einst mächtigen Gorbatschov in der Öffentlichkeit, indem er ihn zwang, einen Text vorzulesen, den er noch nie gesehen hatte. Gorbatschov war verstört, aber las. Die Kamera zeigt einen Zuschauer, der das Spektakel der Demütigung genüßlich konsumiert. Sein Grinsen zeigt genossene Ohnmacht, genossene Demütigung. Es ist abstoßend: Der Mann ist gerade dabei, seine moralische Würde zu verspielen.
    Abgestoßen kann man sich auch fühlen, wenn die moralische Erfahrung auf andere Weise verraten wird: durch Eitelkeit . Ich handle

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