Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
ehrgeizig. Doch als man ihm nahelegte, sich einen angelsächsisch klingenden Namen zuzulegen, reagierte er mit Sarkasmus. Und es kann um Dinge gehen, die noch viel kleiner sind: Man weigert sich, mit jemandem am Tisch zu sitzen, oder man verläßt das Kino, wo man mit Freunden sitzt, weil man den Film widerwärtig findet. Und auch die Courage, öffentlich eine unpopuläre Meinung zu äußern, gehört hierher. Es gehört zur Würde des Außenseiters. Stets geht es um dasselbe: sich nicht um der Zustimmung der anderen willen zu verraten. Die Würde nicht durch Gefallsucht aufs Spiel zu setzen.
In seinem demütigenden Gespräch mit Howard bittet Willy Loman zuerst um fünfundsechzig Dollar die Woche, dann um fünfzig und schließlich um vierzig. Noch weiter herunterzugehen, sagte ich im ersten Kapitel, würde auch den letzten Rest seiner Selbstachtung zerstören. Was ich dort im Auge hatte, können wir jetzt auf den Begriff bringen: Selbstachtung kann auch darin bestehen, daß man einfordert, was einem aufgrund von Leistung zusteht. Auch das ist eine Form, zu sich zu stehen. Wenn eine Belegschaft oder eine Gewerkschaft mehr Lohn fordert, kann das viele Gründe haben. Einer davon kann Selbstachtung sein: Wir wollen endlich eine Bezahlung, die zu unserer Leistung paßt. Mindestlöhne sind Löhne, von denen man leben kann. Sie sind auch Löhne, die zur Selbstachtung der Arbeiter passen. Die Selbstachtung, die dabei im Spiel ist, ist das Bewußtsein, eine bestimmte Art von Anerkennung zu verdienen.
Und schließlich gibt es noch eine Dimension der Selbstverantwortung, die damit zu tun hat, daß sich unsere seelische Identität im Laufe eines Lebens verändert. Wir können uns einen Autor vorstellen, einen Freund von Bernhard Winter, der etwas geschrieben hat, zu dem er nicht mehr steht. Hektisch kauft er alle Exemplare auf, die es von dem Buch noch gibt. Wenn sich ihm jemand in den Weg stellt, wird er fast gewalttätig. Winter sieht ihn zappeln und machen. Er findet es lächerlich. Der Freund tut ihm leid. Seine Würde ist in Gefahr. »Aber Martin«, sagt er, »das warst doch auch du. Sicher, du siehst es jetzt ganz anders, und die früheren Worte sind dir jetzt peinlich, gerade weil es deine waren. Aber abspalten und verleugnen – das kann doch nicht die Lösung sein. Du mußt eine Möglichkeit finden, trotzdem dazu zu stehen. Zu dir selbst zu stehen. Als einer, der sich in der Zeit gewandelt hat. Als einer, der – wie wir alle – im Laufe seines Lebens viele Leben lebt. Es war ja kein Zufall , daß du früher anders dachtest und fühltest, und es ist kein Zufall , daß daraus einer geworden ist, der jetzt so denkt und fühlt. Da gibt es doch etwas zu verstehen . Wie aus einer alten eine neue Melodie des Lebens wird: Das ist ein inneres Geschehen mit einer Logik, es ist nicht wie eine undurchsichtige tektonische Verschiebung. Dieses innere Geschehen kann man sich verstehend aneignen und dadurch als etwas anerkennen, was ein Teil des eigenen Lebens ist. Verantwortung für sein Leben übernehmen, das bedeutet diese beiden Dinge: verstehen und anerkennen. Und dann der Welt das Gesicht zuwenden mit einem Blick, der sagt: Ja, all das war ich!, oder besser noch: All das bin ich!«
6.
Würde als moralische Integrität
Es kann geschehen, daß ich zugunsten eines anderen, der vielleicht erkrankt ist und meine Hilfe braucht, auf ein Stück Leben verzichte: auf eine Reise, einen Beruf, eine Liebe. Dann sind es nicht, wie sonst, meine Bedürfnisse, die über mein Tun bestimmen, sondern die Bedürfnisse des anderen. Ich habe mir seine Bedürfnisse zu eigen gemacht und sie über die meinen gestellt. Das ist das Kennzeichen moralischen Handelns und der Kern moralischer Achtung und Rücksichtnahme: daß die Interessen anderer für mich ein Grund sein können, etwas zu tun oder zu lassen. Auch diese Einstellung und dieses Muster des Handelns machen einen Teil der menschlichen Würde aus. Doch ihre Logik ist nicht immer leicht zu verstehen, und beim Ausziehen der gedanklichen Linien kann man leicht die Übersicht verlieren. Wie können wir uns die moralische Erfahrung am besten verständlich machen? Was für eine Idee von Würde kommt dabei zum Vorschein, und wie ist sie mit den anderen Ideen verknüpft, über die wir bisher gesprochen haben?
Selbständige Moral
Auf die Erfüllung eigener Wünsche zugunsten anderer verzichten: Das können nur Wesen, die zu sich einen bewertenden inneren Abstand, eine kontrollierende Distanz
Weitere Kostenlose Bücher