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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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einzelne Menschen können andere einzelne Menschen bevormunden. Ob daraus eine Gefährdung der Würde entsteht, hängt auch hier davon ab, welche Absicht dahintersteht und ob der Eingriff in die Freiheit verständlich und gerechtfertigt erscheint. Es hängt aber auch davon ab, wie es um den Willen desjenigen steht, über dessen Kopf hinweg entschieden wird.
    Es kann sein, daß es in der Sache, die zu entscheiden ist, noch gar keinen Willen gibt . So ist es bei Kindern, die in einer folgenreichen Angelegenheit noch keinen ausgeprägten, gefestigten Willen und keine Autorität haben. Etwa bei der Wahl der Schule oder der Behandlung einer Krankheit. Dann entscheiden die Eltern, oder es wird ein Vormund beauftragt. Als Kinder in den frühen Jahren sind wir froh darüber: Die Sache ist zu groß für uns, wir sind ihr allein nicht gewachsen und fühlten uns überfordert, wenn wir damit allein gelassen würden. Meine Eltern versäumten es, mich impfen zu lassen. »Du hast so ein Gesicht gemacht«, sagten sie. »Warum habt ihr nicht darauf bestanden ?«, sagte ich, als die Krankheit ausbrach. »Über deinen Kopf hinweg?« »Ja, natürlich ; ich selbst konnte das doch gar nicht beurteilen !« So kann es geschehen, daß wir jemandem vorwerfen , uns nicht bevormundet zu haben.
    Kinder haben manchmal noch keinen Willen und keine Autorität, die man respektieren könnte. Senile und demente Menschen haben einen solchen Willen und eine solche Autorität manchmal nicht mehr . Dann müssen andere bestimmen: wohin sie noch gehen dürfen und wohin nicht; was sie essen sollen; was für Medikamente sie nehmen müssen. Wenn Kinder noch keine Autorität haben, schafft das kein Problem der Würde: Sie sind ja auf dem Weg. Wenn die Autorität im Alter schwindet, tut es weh, sowohl den Betroffenen als auch uns, die wir zusehen müssen. Wir versuchen, sie behutsam zu behandeln und ihnen die Würde zu lassen. Aber es ist nicht mehr die frühere Würde, die in der Selbständigkeit bestand. Ich komme im letzten Kapitel darauf zurück.
    Manchmal gibt es einen Willen, aber wir kennen ihn nicht und können ihn auch nicht erfragen . Auch dann müssen wir über den Kopf von jemandem hinweg handeln und ihn in diesem Sinne bevormunden. So ist es bei einem Unfall, einem Schlaganfall, bei der unerwarteten Wendung in einer Operation, oder wenn jemand ins Koma fällt. In einem solchen Fall entscheidet der Arzt stellvertretend für den Patienten. Wenn er es richtig macht, gefährdet er dessen Würde damit nicht. Entscheidend ist, daß er sich in seine Lage versetzt und sich fragt, was der Wille des Patienten wäre. Er kann sich dabei täuschen: Vielleicht wäre ich an dem Tumor, den die Operation aufdeckt, lieber gestorben, als mit der Behinderung zu leben, die das Wegschneiden nun mit sich bringt. Doch das konnte er nicht wissen, und auch wenn ich unglücklich über seine Entscheidung bin, werde ich sie ihm nicht im Ernst übelnehmen. Und sicher werde ich ihm nicht vorwerfen, mich in meiner Würde verletzt zu haben. Diesen Vorwurf werde ich erst dann erheben, wenn ich erfahre, daß er, obwohl es hoffnungslos aussah, geschnitten hat, um mit seiner Studie über Lähmungen und cerebrale Ausfälle voranzukommen. Jetzt weiß ich, daß ich ein Versuchskaninchen war und durch die Bevormundung als bloßes Mittel benutzt wurde.
    Am schwierigsten ist es, wenn wir glauben, jemanden gegen seinen bekannten Willen bevormunden zu können, ohne seine Würde zu beschädigen. Wenn wir das glauben, dann deshalb, weil wir Übel vermeiden und Leid abwenden wollen. Die Formel lautet: Freiheit nehmen, um Leid zu verhindern. Daß uns dieses Ziel leitet – denken wir –, verhindert, daß wir die Betroffenen durch die Bevormundung demütigen. Sie werden es zwar unvermeidlich als Ohnmacht erleben, aber nicht als gewollte, gezielte und genossene Ohnmacht, sondern eine Ohnmacht, die wir ihnen als das geringere Übel zumuten. Das hoffen wir bereits bei kleineren Bevormundungen Kindern und Jugendlichen gegenüber: Wir lassen sie nicht soviel fernsehen, wie sie möchten, wir nehmen ihnen brutale Computerspiele weg, sie dürfen weder Alkohol trinken noch Auto fahren, obwohl sie nichts lieber täten. Wir verbieten es ihnen nicht aus Lust am Gängeln, sondern aus dem Bedürfnis heraus, sie zu schützen.
    Manchmal handeln wir in diesem Sinne auch Erwachsenen gegenüber, und auch, wenn es um Dinge geht, die viel schwerer wiegen. Ein Arzt mag einem Patienten eine erschreckende Diagnose

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