Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Motiv hat weniger mit der Perspektive des Opfers als mit der Zukunft des Täters zu tun. Dann betrachtet man Strafe als Zwangserziehung: als eine erzwungene Veränderung des Täters hin zu mehr Kontrolle und Verantwortung, zu mehr Respekt vor den Gesetzen und mehr Rücksichtnahme anderen gegenüber. Bei diesem Zwang geht es nicht um das Leid des Täters, sondern um die wirksame Einflußnahme. Er soll die Entbehrungen spüren, um den Willen zu einer Veränderung zu entwickeln.
Dieses letzte Motiv stellt keine Gefahr für die Würde dar. Es billigt dem Bestraften das Recht auf eine offene Zukunft zu. Die Erziehung bedeutet Entbehrungen und Zwang, aber der leitende Gedanke ist, den Bestraften aus der rücksichtslosen Vergangenheit loszureißen und ihm die Möglichkeit zu eröffnen, sich neu zu sehen und zu verhalten. Weil auch er ein Zweck in sich selbst ist. Entscheidend ist nicht, wie oft das gelingt und wie oft nicht. Zynismus ist nicht interessant. Entscheidend ist, daß es bei diesem Motiv eine Begegnung bleibt, die die Würde des Bestraften wahrt.
Anders ist es, wenn das Motiv der Vergeltung Regie führt. Dann droht der Wunsch nach Ausgleich im Leid, die Würde des Bestraften zu zerstören. Offensichtlich ist das bei der Todesstrafe. Zukunftslos und versteinert in Angst warten die Häftlinge auf den staatlich verordneten Tod. Jede Würde, die auch die Würde einer offenen Zukunft wäre, ist ihnen genommen. In Kalifornien wurde ein Mörder nach zwanzig Jahren hingerichtet. Er hatte sich von aller Gewalt losgesagt, er hatte dazu Kinderbücher geschrieben und für die Möglichkeit geworben, sich grundlegend zu ändern. Der Gouverneur wußte das. Er begnadigte ihn nicht. Ein Verlust der moralischen Würde, der einem das Blut ins Gesicht treiben kann.
Den Kampf zwischen dem Motiv der Vergeltung und dem Motiv der Erziehung kann man in jedem Gefängnis beobachten. Dort steht täglich und in hundert Kleinigkeiten die Würde der Bestraften auf dem Spiel. Gefängnisse sind totale Institutionen, und als solche sind sie eine Bedrohung für die Würde. Vor der Einlieferung hatte der Häftling ein Selbstbild, ein Repertoire von Abwehrmechanismen, Rechte, eine Position im Raum sozialer Beziehungen. All das ist weg, wenn sich die Zellentür hinter ihm schließt. Es ist der bürgerliche Tod und manchmal auch der seelische Tod. Er ist jetzt von der Außenwelt abgeschnitten. Schon dem Besucher nimmt der Anblick der Schranke den Atem. Wenn sie sich hinter dem Häftling schließt, betritt er eine Welt der Demütigungen. In den Aufnahmeprozeduren wird er zum Gegenstand, der in die Verwaltungsmaschinerie der Anstalt eingefüttert werden kann. Bei der Einlieferung hat er in vielen Gefängnissen nackt zu sein. Keine persönliche Habe. Verlust des vollen Namens. Entstellungen durch Haarschnitt, durch Gefängniskleidung mit Nummer. Feindselige Stereotypen von Seiten des Personals. Und was besonders weh tut: keine Selbständigkeit mehr, keine Bestimmung über das eigene Leben. Die Zeitabläufe sind vorgeschrieben. Die Kommunikation wird kontrolliert. Von Entscheidungen, die sein Geschick betreffen, erfährt der Insasse nichts. Die Arbeit, zu der er verdonnert wird, ist wertlos. Es geht darum, seinen Willen zu brechen.
Philippe Claudel, der Lehrer, der lange Jahre im Gefängnis von Nancy unterrichtete und dem wir im dritten Kapitel schon einmal begegnet sind, schreibt: »Das Gefängnis glich einer Fabrik. Einer großen Fabrik, die nichts herstellte, außer abgefeilter, zerkleinerter, reduzierter Zeit, erstickter Leben und eingeschränkter Bewegungen.« Und er erinnert daran, welche Hölle ein Gefängnis sein kann: »Sich vor den Augen der anderen waschen, vor den Augen der anderen koten, vor den Augen der anderen leben, mit den anderen – oft drei oder vier – weniger als zehn Quadratmeter teilen. Manchmal in einer Vierzehnerzelle sein, die ein einziges Waschbecken hatte und bloß kaltes Wasser. Die Träume der anderen hören, ihre Alpdrücke, ihre Fürze, ihr Weinen, ihre Haßtiraden, den anderen ertragen, sich vom anderen vergewaltigen lassen.«
Ich treffe mich mit dem Direktor des Gefängnisses. Er zeigt mir alles, läßt mir Zeit, in die Zellen zu gehen und mit den Häftlingen zu sprechen. Als ich mich nachher in seinem Büro zum Gespräch hinsetze, verfolgen mich zwei Szenen. Die eine: Ich bin in einer Viererzelle. Einer der vier sitzt am Tisch, die anderen liegen auf dem Bett. Ich setze mich zu dem Mann an den Tisch. Ein
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