Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
konnte, und hatte doch nichts davon gewollt, hatte gehofft und versucht, es zu vermeiden, hatte es tief bedauert. Aber ich hatte ihm seinen Jungen dennoch genommen. Und deshalb kehrte ich jetzt zu ihm zurück.« Er läßt den Revolver vor ihm in den Schnee fallen. »Ich habe einen Sohn«, sagt er, »zehn Jahre alt, wie Ihr Junge es war. Ihnen scheint das nicht fair, und das ist es auch nicht.« Der Vater sagt: »Sie haben ihm das Leben genommen, als wäre es nichts, und dann haben Sie Ihres weitergelebt, als hätten Sie ein Recht darauf.« »Ich hatte Angst«, sagt der Mann. »Das reicht nicht«, sagt der Vater. Er zielt mit der Waffe auf den Mann. Der Mann nickt. »Ja«, sagt er. Der Vater berichtet: »Ich versuchte, ihm nicht ins Gesicht zu sehen, aber ich konnte nicht anders; obwohl keiner von uns sich auch nur einen Zentimeter bewegte, schienen die Stille und die verstreichenden Sekunden uns einander näherzubringen. Seine Augen, weit auseinanderstehend in einem breiten, wettergegerbten Gesicht, waren braun und überraschend sanft, und zum erstenmal bemerkte ich die deutlichen dunklen Ringe darunter.« Ob er sich stellen werde, fragt der Vater. »Ja«, sagt der Mann. »›Nein‹, sagte ich plötzlich. Ich sah ihn mit der Polizei vor mir, und es bedeutete nichts, änderte nichts. ›Nein.‹ Ich schüttelte den Kopf, hatte ein anderes Bild vor Augen: seinen Sohn, der jetzt aufgewacht war und in dem kalten, leeren Haus stand. ›Gehen Sie zu Ihrem Sohn zurück‹, sagte ich zu ihm.«
Das ist kein Modell, keine Richtschnur für irgend etwas. Auch nicht für Vergebung. Aber es gibt etwas, was man an der Geschichte ablesen kann: Wenn Würde etwas mit der Überwindung von Schuld zu tun hat, dann kann sie nur gelingen, wenn es eine Begegnung zwischen Täter und Opfer gibt, eine Begegnung, in der sie einander als Menschen jenseits dieser Tat sehen und erleben können. Ich weiß nicht, ob es ginge, aber man könnte versuchen, die Geschichte vorsichtig weiterzuspinnen. Nach einiger Zeit treffen sich die beiden wieder. Schuld und Schmerz sind unverändert, und auch die Feindseligkeit droht jeden Moment aufzuflammen. Aber sie stellen Fragen nach dem Leben des anderen, nach ihrem Leben als Vater und auch sonst. Beide spüren sie manchmal den Impuls, wortlos aufzustehen und zu gehen. Es hat keinen Sinn. Aber dann treffen sie sich doch wieder. Es wäre eine Geschichte über die Wandelbarkeit des Empfindens einer Schuld gegenüber. Nicht darüber, daß die Schuld verblaßt oder sich wegreden läßt. Eher so: Wenn die beiden mehr voneinander wissen und immer besser verstehen, wer der andere ist, können die Empfindungen differenzierter werden, feingliedriger. Die Schuld ist nicht mehr wie ein stummer, eisiger Klotz. Der Mann, der damals gefahren ist, kann jetzt besser spüren, was für ein Unglück es für den Vater ist. Was es mit dessen Leben gemacht hat. Er kann eine reichere, genauere Sprache finden, mit der er um Vergebung bitten kann, eine Sprache, die nicht mehr im Verdacht steht, die Sache mit Floskeln der Entschuldigung abtun zu wollen. Und wenn er mehr über das Leben des Vaters weiß, findet er jenseits der Worte vielleicht auch Gesten und Handlungen, die seine Reue glaubwürdig zum Ausdruck bringen. Der Vater, wenn er den Mann besser kennt, wird ihm nicht einfach vergeben können im Sinne einer vollständigen Wiederherstellung des moralischen Gleichgewichts. Aber der Mann wird nicht länger einfach der Feind sein, der rücksichtslose Täter, der ihm den Sohn genommen hat. Und er wird ihm eine offene Zukunft zubilligen, eine Zukunft, die nicht durch diese eine Schuld versiegelt ist. So könnte die Geschichte sein. Es wäre eine Geschichte über Würde als verarbeitete Schuld.
Um Wandelbarkeit im Schuldempfinden, um Begegnung, Entwicklung und offene Zukunft geht es auch dann, wenn die Schuld nicht in einem fehlenden Willen und einer Unterlassung begründet liegt, sondern in einem klaren, bewußten Willen, der Leid bedeutet. Auch solche Schuld kann vielfältig sein und die Würde auf vielfältige Weise herausfordern. Und wie sich die Geschichten über die Episode der Schuld hinaus fortschreiben, hängt von den Einzelheiten und der Bedeutung der Episode ab. Es kann sein, daß einer aus Notwehr schuldig wird: durch eine Tat, mit der er unerträglicher Not entflieht, die einen anderen aber vernichtet. So geschieht es in einer Episode, von der Roman Frister in seinem autobiographischen Buch Die Mütze oder der Preis des
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