Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
zum Ausgangspunkt einer Versöhnung machen könnte? Wenn es Neid oder Eifersucht waren, wird der Freund erst gar nicht den Versuch machen. Vielleicht ist es anders, wenn die beiden entdecken, daß sich Loman für eine Demütigung oder eine andere Grausamkeit rächen wollte, deren Ausmaß dem Freund nicht bewußt war. Was er durch den Verrat herstellen wollte, war ein Gleichgewicht des Leids. Wie bei jeder Rache, jeder Vergeltung. Es ist zweifelhaft, ob aus so etwas Versöhnung entstehen kann. Aber es ist besser, als wenn es purer Eigennutz oder gar simple Bosheit gewesen wären. Auf jeden Fall müßte der Freund Reue erkennen können: Lomans Eingeständnis einer unentschuldbaren Verfehlung, gepaart mit der Trauer darüber, daß er sich durch diese Tat als moralisch integre Person verloren hat. Und der Freund müßte zu etwas bereit sein, was ich schon einige Male erwähnt habe, was in seiner Natur aber schwer zu verstehen ist, schwerer als die Geläufigkeit des Worts es nahelegt: Vergebung .
Nelson Mandela verbrachte 27 Jahre als politischer Häftling im Gefängnis. Als er herauskam, reichte er den Weißen, die ihm ein halbes Leben gestohlen hatten, die Hand zur Versöhnung. Er verzichtete auf ein Gleichgewicht des Leids, nicht nur im Tun, sondern sogar im Empfinden. Die Würde, die in diesem Willen zur Versöhnung lag, beruhte auf der Fähigkeit zu vergeben. Es waren die Bereitschaft und die Kraft, vergangenes Unrecht ruhenzulassen. Das war, so will es einem vorkommen, nur möglich, weil es Mandela um etwas Größeres ging als persönliche Konflikte und persönliches Leid: die friedliche Zukunft eines Landes. Das war etwas so Großes, daß sogar ein halbes Leben im Gefängnis klein erscheinen konnte. Und vielleicht trifft das auch auf Vergebung im kleineren Maßstab zu: Man überspringt den Schatten vergangenen Unrechts, um eine Zukunft möglich zu machen. Man läßt das Aufrechnen und Abrechnen sein, damit die nächste Etappe des Lebens gelingen kann. Es ist eine Form der Großzügigkeit, die aus etwas entspringt, was wir im nächsten Kapitel besprechen werden: der Würde als Sinn für die Proportionen. Um über einen Verrat hinwegzukommen, braucht es diesen Schritt: sich dem anderen um einer bedeutsamen Zukunft willen erneut zuzuwenden. Wenn wir so etwas sehen, empfinden wir es als Ausdruck von Würde.
Strafe: Entwicklung statt Vernichtung
Viele Formen der Schuld werden bestraft. Strafe bedeutet: jemandem gezielt ein Übel zufügen als Antwort auf das Übel, das er zugefügt hat. Wenn es private Dinge betrifft, machen wir es selbst. Wenn Gesetze verletzt worden sind, machen es Vertreter des Staates. Was ist das Motiv dahinter? Und was geschieht dabei mit der Würde der Bestraften und der Bestrafenden?
Wer schuldig geworden ist, hat eine Norm gebrochen: Er hat getan, was er nicht hätte tun dürfen. Der Bruch einer Norm kann nicht ohne bestrafende Reaktion bleiben. Er kann nicht einfach übergangen werden. Sonst verliert die Norm ihre Kraft. Es ist dann, als gäbe es sie gar nicht. Der Staat, wenn er einen Gesetzesbruch bestraft, verteidigt das Gesetz für die Augen der zusehenden Bürger. Das ist das eine Motiv hinter dem Strafen. Es ist, könnte man sagen, ein begriffliches Motiv. Es ergibt sich aus der Logik von Normen.
Wenn uns jemand wissentlich ein Leid zufügt, spüren wir Empörung, Groll oder sogar Haß. Solche Empfindungen verlangen, daß etwas geschieht: ein Ausgleich von Leid, der zur Besänftigung des Grolls beiträgt. Diesen Ausgleich nennen wir Rache oder Vergeltung. Das ist es, was die Opfer von den Richtern erwarten: daß sie den Täter hinter Gitter bringen und so Leid mit Leid vergelten. Wenn sie ein mildes Urteil ungerecht nennen, dann meinen sie: Das ist nicht Leid genug, um mein Leid aufzuwiegen. Und auch wer ohne Richter Vergeltung übt, spricht manchmal von Gerechtigkeit. »Wilczek junior erwürgten wir in dem Zug, der uns nach Auschwitz brachte«, schreibt Frister in seinem Buch. »Ich schreibe ›wir erwürgten‹, obgleich ich an der eigentlichen Tat keinen Anteil hatte. Ich beobachtete das Geschehen, sah die Finger, die sich um seinen Hals spannten, bis er aufhörte zu atmen, und mein Herz war mit den Würgern. Ich betrachtete diese Tat als natürliche Gerechtigkeit. Wer sagt, daß nur unparteiische Gerichte Verbrechen verurteilen dürfen? Wilczek junior zahlte den Preis für seine Gemeinheiten.« Diese Art von Empfindung ist ein zweites Motiv für Strafe.
Ein noch anderes
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