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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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Lebens erzählt. Er ist im Konzentrationslager vergewaltigt worden, und der Täter hat ihm die Mütze weggenommen. »Ein Häftling ohne Mütze war ein toter Häftling. Jeder, der beim Morgenappell nicht vorschriftsmäßig seine Mütze trug, wurde erschossen.« Frister schleicht durch die nächtliche Baracke und sucht einen, dem er die Mütze wegnehmen kann. »Er lag auf der obersten Pritsche. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn er hatte die Decke darüber gezogen. Doch die Spitze seiner Mütze lugte unter seinem angewinkelten Arm hervor. Vorsichtig zog ich an der Mütze. Der Mann rührte sich nicht. Die Mütze war in meiner Hand. Rasch steckte ich sie unter mein Hemd. Der rauhe Stoff kratzte an meiner Brust. Glücklich begann ich meinen Rückzug.« Es kommt der Morgenappell. »Irgendwo hinter mir stand ein Mensch, der auf seinen sicheren Tod wartete. Ich hatte keine Ahnung, was der Mann ohne Mütze fühlte und dachte. Ich hatte keine Gewissensbisse, ich verweigerte mich jedem Gedanken an ihn oder an seine Gefühle. Seine Existenz war mir nicht wichtig. Wenn ich mir nicht helfe, wer sonst wird es tun? Der Offizier und der Kapo zählten die Gefangenen, ich die Sekunden. Ich wollte, daß die Sache schnell vorbei war. Der Mann ohne Mütze flehte nicht um sein Leben. Der Schuß wurde ohne Vorwarnung abgefeuert. Ich blickte mich nicht um. Ich wollte nicht wissen, wer erschossen worden war. Ich war froh zu leben.« Frister schreibt die Geschichte in einer einzigen Nacht nieder. Der Journalist, der sie liest, möchte sie drucken. Frister weigert sich. »Warum hast du sie dann geschrieben?« »Ich weiß es nicht. Es war stärker als ich.«
    Es ist die Geschichte einer Schuld aus Notwehr. Der Wille zu leben ist stärker als alles andere. Er verdrängt im Lager sogar die Empfindung der Schuld. Sie darf sich nicht entfalten. Aber sie ist da. Viele Jahre später bricht sie sich in der Nacht des Schreibens Bahn. Und noch einmal viele Jahre später kann Frister damit an die Öffentlichkeit gehen. Es ist eine Art, zu der Schuld zu stehen und sie in sein Leben zu integrieren. Zwei Dinge gehören dazu. Einmal das Bewußtsein, daß er heute nicht mehr derselbe ist wie damals. Das macht die Schuld nicht kleiner. Aber sie hat jetzt einen anderen Gefühlsort in ihm als früher, trägt anders zu seinem Leben bei als damals. Und dann steht Frister heute eine andere Betrachtungsweise zur Verfügung als damals, zur Zeit der Tat und zur Zeit des eruptiven Aufschreibens: »Ist es erlaubt, Handlungen, die in die Zeit der Dunkelheit gehören, nach Kriterien der Zeit des Lichts zu beurteilen?« Es wird keine Schuld geleugnet. Aber es wird der Versuch gemacht, die richtige Perspektive auf sie zu finden, statt sie unverstanden in sich zu verschließen. Und auch so kann Würde aussehen.
    Schuld aus Notwehr: Das kann es auch geben, wenn die Sicherheitsorgane einer Diktatur mich durch Erpressung dazu bringen, einen Vater, einen Freund, eine Geliebte zu verraten, um nicht selbst unterzugehen. Nicht nur die Person, auch das kostbare Gut der Loyalität wird verraten. Wie können sich der Verräter und die Verratenen später begegnen? Worin kann die Würde einer solchen Begegnung bestehen? Es wird darum gehen, daß der Verrat dem Opfer verständlich wird: in den Einzelheiten der Drohung und vor allem des inneren Konflikts. Nur wenn der Verratene den inneren Kampf in sich nachbilden kann, wird er vielleicht finden: Das hätte mir auch passieren können. Und dann kann eine Entwicklung einsetzen, die man so beschreiben kann: Die beiden, die sich durch den Verrat verloren haben, versuchen, sich wiederzufinden. Und vom Verräter könnte man sagen: Er versucht, den, an dem er schuldig geworden ist, zurückzugewinnen , durch Ausgleich und Wiedergutmachung. Die beiden können versuchen, eine neue Gemeinsamkeit des Lebens zu finden. Verstehen wird die Voraussetzung für Versöhnung sein, und die Grenzen der Versöhnung werden die Grenzen der Einbildungskraft sein, der sozialen Phantasie.
    Im dritten Kapitel haben wir uns einen Willy Loman vorgestellt, der einen Freund an McCarthys Hexenjäger verraten hat. Der Verrat hat den Mann und seine ganze Familie ruiniert. Nehmen wir an, er hat sich nicht das Leben genommen. Nehmen wir an, die beiden begegnen sich. Was für eine Art von Würde könnte es dabei geben? Was für eine Art von Versöhnung? Loman hat es nicht getan, um sich zu schützen. Gibt es ein anderes Motiv, das der einstige Freund anerkennen und

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