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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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dunkelhäutiger Hüne. Er zeichnet mit Buntstiften. Er blickt mich nicht an. Ich finde keine Worte. Aber ich habe das Gefühl, daß er froh ist über den Besuch. Plötzlich sagt er: On a trop de temps ici. Hier hat man zuviel Zeit. Ça ne va pas. Das geht nicht. Ich probiere zwei Lesarten aus: Das ist nicht auszuhalten. Das kann man mit niemandem machen. Ça ne va pas. Vous comprenez? Verstehen Sie? Ja, sage ich, ich verstünde. Da blickt er mich an. Einem solchen Blick hatte ich noch nie standhalten müssen. Ich wäre am liebsten noch geblieben. Zugleich wollte ich fliehen.
    Die andere Szene: Ich bin mit einem schmächtigen Mann in einer Einzelzelle. Etwa fünf auf drei Meter. Ein schmaler Gang zwischen Bett und Tisch, man muß seitlich gehen. Wir sitzen auf dem Bett. Wie lange schon, frage ich, wie lange noch. Réclusion à perpétuité. Lebenslänglich. Auch das ein schreckliches Wort. Aber perpétuité erschreckt mich noch mehr: Es klingt nach Ewigkeit, Ewigkeit in der Hölle. Was das Schrecklichste sei, frage ich. Er führt mich wortlos zur Tür. Dort nimmt er meine Hand und legt sie über die Stelle, wo die Klinke sein müßte. Noch nie habe ich so deutlich gespürt, daß etwas nicht da ist. Als wir nachher wieder auf dem Bett sitzen, starre ich auf die Tür, auf die fehlende Klinke, ich kann den Blick nicht davon lösen. Es wird mir eng wie bei einem Herzanfall. Ça ne va pas , höre ich den Mann drüben sagen. Ich möchte mich verabschieden. Ich finde keine Worte. Alle geläufigen Worte und Wünsche bleiben mir im Hals stecken. Ich berühre ihn am Arm und gehe hinaus. Die Tür ist einen Spaltbreit offen. Draußen wartet der ungeduldige Wärter. Er schließt ab. Das Geräusch des Schlüssels verfolgt mich.
    Im Büro setze ich mich dem Direktor gegenüber. Er ist ein Mann nicht ohne Offenheit und Sensibilität, aber auch einer, der leicht in eine steife Abwehrhaltung verfällt, wenn man diesen Ort und seine Arbeit in Frage stellt. Erziehung und Vergeltung: Er kennt beide Motive. Er gleitet zwischen ihnen hin und her.
    »Das geht so nicht«, sage ich. Es ist natürlich die falsche Eröffnung. Aber ich muß die Worte des zeichnenden Hünen sagen, um daran nicht zu ersticken, und um sie in die Öffentlichkeit zu tragen.
    »Ich verstehe nicht«, sagt der Direktor.
    »Dieses Einsperren, all diese tote Zeit. Es bessert die Leute nicht, es vernichtet sie.«
    »Das hier ist kein Hotel. Es ist ein Straflager.«
    »Ich weiß. Eine Strafkolonie.«
    Im Gesicht des Direktors zuckt es. Es ist kein nervöses Zucken, kein nervlicher Irrläufer. Er würde mich am liebsten rauswerfen.
    »Sie sind hier drin doch ohnehin gefangen und können kein gewöhnliches, selbständiges Leben führen. Warum dann noch die verriegelte Tür? Mehrmals am Tag der Schock, eingeschlossen zu werden. Kein Türgriff. Was denkt man sich dabei? Es bewirkt nichts für die Veränderung zum Guten. Im Gegenteil, es schürt Groll, Haß, Verzweiflung. Warum also? Einfach, um ihnen dieses Übel des Eingeschlossenseins, diese Erfahrung der Ohnmacht, diese Demütigung immer wieder zuzumuten? Einfach um des Übels willen? Einfach, um weh zu tun? Wissend, daß jedes Geräusch des Schlüssels an der Vernichtung der Leute arbeitet? Pure Vergeltung also, und nicht von den Opfern, sondern von Staats wegen, durch die Hand von Beamten, die eine Pension erhalten werden und manchmal trotzdem zum Strick greifen?«
    »Das klingt, als fügten wir Übel um der Übel willen zu. Als wäre es böse , was wir tun. Aber so ist es nicht. Wir bestrafen . Das ist etwas anderes. Und die Leute hier, die haben großes Leid verursacht, wirklich großes Leid, das sollten Sie nicht vergessen.«
    »Tue ich auch nicht. Ich verstehe das Bedürfnis der Opfer nach Vergeltung, und ich verstehe, daß Sie und Ihre Leute diese Vergeltung stellvertretend üben. Aber Strafe ist eine Sache, Vernichtung eine andere . Da gibt es eine Grenze. Und das tägliche Einschließen liegt jenseits dieser Grenze. Es ist ein unnötiges Einschließen innerhalb des Einschließens, denn hier drin sind sie ja ohnehin eingeschlossen. Das ist pure Quälerei. ›Es macht dich fertig‹, sagte mir einer.«
    »Und wenn er Ihren Kindern etwas angetan hätte, oder Ihrer Frau, oder Ihren Eltern? Fänden Sie es dann immer noch so abstoßend, daß man den Täter jeden Tag so demütigt? Oder würden Sie es als gerecht empfinden, als Gleichgewicht des Leids, das auf diese Weise hergestellt wird, weil ja das Leid des Opfers nicht

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