Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Seine Würde, sofern sie in unseren Händen liegt, besteht in der Anerkennung, daß er mehr ist als der Täter dieser Tat, viel mehr. Die Institution der Strafe müßte Mittel, Ausdrucksformen, Regeln entwickeln, um diese Anerkennung spürbar, täglich spürbar zu machen, erlebbar, ohne daß das Bewußtsein der Strafe aus dem Blick gerät. Dem Häftling gebührt ein Recht auf diese Anerkennung.«
»Es gibt ein Recht auf Beschwerde.«
»Und? Was nützt es ihm?«
Der Direktor zuckt die Schultern und lächelt dünn. »Die Jungs können in der Zelle persönliche Gegenstände aufstellen, und sie können auch individuelle Kleidungsstücke tragen.«
»Gut. Aber wichtiger wäre Arbeit . Damit es nicht leere, tote Zeit ist, was sie hier absitzen. Man sieht die Leerheit der Zeit in der Leerheit der Blicke. Und ich meine nicht Tütenkleben. Ich meine richtige Arbeit, wertvolle Arbeit. Dazu gehört eine Ausbildung, in der sie sich in ihren Fähigkeiten entwickeln können. Damit sie ein Gefühl für ihren Wert bekommen. Für manchen wird das das erste Mal in seinem Leben sein. Vorhin habe ich einen gesehen, der unaufhörlich denselben Gang aufwischte. ›Dafür bin ich da‹, sagte er, als ich ihn darauf ansprach. Auch das ist etwas, was ich meinte, als ich sagte: So geht das nicht. Auch Häftlinge, auch Schuldige, müssen ihre Zeit als eine lebendige Zeit erleben können, in der sie etwas mit sich und aus sich machen. Man muß ihnen eine Perspektive geben.«
»Einige verweigern die Arbeit. Wollen lieber auf der Pritsche liegen und vor sich hin starren.«
»Ich wette: Das bliebe nicht so, wenn es Arbeit wäre, wie ich sie mir vorstelle. Und diese Vorstellung hat noch eine andere Seite: Ich stelle mir vor, daß die Leute mit ihrer Arbeit Geld verdienen, richtiges Geld. Und daß sie den größten Teil davon an ihre Opfer zahlen. Als Wiedergutmachung. Man könnte auch sagen: um an ihrer Schuld zu arbeiten. Nicht, um sie loszuwerden. Um sie in ihr Leben zu integrieren. Und die verlorene Würde langsam zurückzugewinnen. Vielleicht käme es dadurch hin und wieder auch zu einer neuen Begegnung mit dem Opfer, wer weiß.«
» Mon Dieu , und wie wollen Sie das alles organisieren?«
»Es ginge. Wenn man nur wollte. Und um mein romantisches Hirngespinst weiterzuspinnen: Noch besser wäre, wenn nicht jeder nur für sich arbeitete. Wenn es eine Arbeit wäre, bei der viele etwas zusammen machten.«
»In Gefängnissen gibt es keine Freundschaften. Kumpel vielleicht, aber keine Freunde.«
»Eben. Vielleicht würde sich auch das ändern.«
»Jetzt fehlt nur noch, daß Sie von einem Recht auf eine Therapie sprechen.«
Ich grinste. »Niemand wird als Verbrecher geboren. Jede Tat, die hier endet, ist auch eine Entgleisung. Es war eine menschliche Tat, und menschliche Taten entspringen stets aus einem vielschichtigen seelischen Geschehen. An einer Schuld zu arbeiten, statt sie wie einen Stein in sich herumzutragen, heißt auch für einen Häftling, herauszufinden, was da eigentlich mit ihm geschehen ist. Und ja, es ist eine Frage unserer Würde, ihn dabei zu unterstützen. Denn das Gegenteil wäre die Einstellung der puren, rohen Vergeltung: Der soll doch an seinem inneren Chaos ersticken! Ich weiß nicht, wie es Ihnen hier drinnen geht, aber wenn ich draußen an einem Gefängnis vorbeigehe, denke ich oft: Wie wenig es braucht, um zu entgleisen; wieviel Glück ich hatte, daß es mich nicht erwischt hat.«
»Was sagen Sie denen, die auf Ihre Vorschläge hin den Kopf schütteln und ausrufen: Man denkt ohnehin schon viel zuviel an die Täter ! Wer denkt eigentlich an die Opfer ?«
»Ich sage ihnen: Wenn wir von den Tätern reden, reden wir von den Tätern; wenn wir von den Opfern reden, reden wir von den Opfern. Über beide gibt es ganz unterschiedliche Dinge zu sagen. Und es gibt ganz unterschiedliche Arten, sich um sie zu kümmern. Auch im Sinne der Würde. Es ist Unsinn, die beiden Dinge gegeneinander auszuspielen . Es ist Unsinn, Stammtisch-Unsinn.«
»Ich mag gar nicht an die Schlagzeilen denken, wenn wir aus dem Gefängnis das machten, was Sie vorschlagen. Was gab es für einen Aufruhr, als die Häftlinge Fernsehen bekamen. ›Die Herren wünschen Unterhaltung! Entertainment ! Jetzt fehlen nur noch die Nutten!‹«
»Ich weiß. Solche Leute denken nicht nach . Sie können sich nicht vorstellen , wie es ist, hier drin leben zu müssen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Daß man erstickt, verdorrt, verkümmert, wenn es keine Verbindung
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