Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
mehr rückgängig gemacht werden kann?«
»Die tägliche Demütigung des Verriegelns, sie ist nicht irgend ein Leid, auch nicht einfach eine Unbequemlichkeit, eine Schikane, ein Ärgernis. Diese hundertfache, tausendfache Demütigung ist so beschaffen, daß sie die Seele zerstört. Da kann einer nicht mehr atmen, wenn es über Jahre für ihn keinen einzigen Tag gibt, ohne daß seine Zellentür verriegelt wird. Können Sie das wirklich wollen? Ist es nicht so, daß man das nur mitmachen kann, weil die Phantasie nicht präzise genug ist, sich die ungeheure Demütigung wirklich vorzustellen?«
»Und wenn er Ihren Kindern …«
»Nein. Ich denke, daß ich Strafe möchte, auch im Sinne des Ausgleichs. Ein Leben unter Zwang, durchaus. Zwang zur Veränderung, auch zur Wiedergutmachung am Opfer. Lebenslanger, schmerzhafter Verzicht zugunsten des Opfers, ein Verzicht, von dem das Opfer etwas hat. Aber nicht eine Demütigung, die einer seelischen Vernichtung gleichkommt.«
»Nehmen Sie an, Sie begegnen demjenigen, der Ihre Tochter vergewaltigt hat. Das Mädchen spricht nicht mehr, verharrt in ihrem Trauma, ist in der Seele zerbrochen. Würden Sie ihn nicht am liebsten vernichten?«
»Doch, das kann ich mir vorstellen. Das könnte auch mein Affekt sein. Aber darum geht es nicht. Es geht nicht um die spontanen Affekte der Opfer und derer, die ihr Leid sehen. Es geht um eine überlegte, abgewogene Strafe durch den Staat. Und der Maßstab dieser Strafe sollte die moralische Würde sein: darauf achten, daß die Strafe die Würde der Häftlinge nicht zerstört. Einmal wegen dieser Würde selbst, und dann auch deshalb, weil sie nur dann einen Willen zur Besserung entwickeln werden. Es gibt Länder, in denen rechtlich festgelegt ist, daß es auch beim Strafvollzug um die Wahrung der menschlichen Würde geht.«
»Was wäre denn das für eine Würde? Bei einem Mörder, einem Vergewaltiger, einem Betrüger, der andere in den Ruin getrieben hat? Vergessen Sie nicht, was er getan hat. Was für ein Leid er verursacht hat, unwiderrufliches Leid.«
»Ich vergesse es nicht. Ich vergesse auch die Roheit und Brutalität nicht, die ich vorhin bei einigen zu spüren meinte. Aber ich kann Ihnen sagen, was ich unter der Würde verstehe, die es trotzdem auch bei ihnen zu schützen gilt. Zunächst einmal bedeutet sie, daß man ihnen, wie jedem anderen auch, als Menschen begegnet, die nicht auf einzelne Taten ihrer Vergangenheit festgelegt und durch sie vollständig definiert werden dürfen. Ihnen die Würde zu lassen, bedeutet, ihnen als Menschen zu begegnen, die auch nach ihrer schrecklichen Tat in eine offene Zukunft hineingehen, in der sie sich verwandeln können, auch sehr tiefgreifend.«
Der Direktor tritt ans Fenster und blickt eine Weile wortlos hinaus. »Klingt gut«, sagt er schließlich. »Romantisch. Ich höre mich ähnliche Worte sagen. Vor zwanzig Jahren. Kennen Sie die Rückfallstatistik? Vor ein paar Tagen haben wir einen entlassen, der wegen Totschlags saß. Ich habe ihn von hier aus durchs Tor gehen sehen. Heute morgen habe ich ihn wieder gesehen, in anderer Richtung. Er hat einen erschlagen.«
»Es geht nicht darum, wie wahrscheinlich es ist, daß einer seine Zukunft als eine offene nutzt . Es geht nicht um eine Prognose . Es geht um eine Einstellung . Unsere Einstellung. Die Würde eines Häftlings liegt darin, daß wir ihm mit einer bestimmten Einstellung begegnen, die in der Art, wie das Gefängnis organisiert ist, Ausdruck finden muß. Vorhin zeigte ein Wärter der Reihe nach auf die Zellentüren und sagte: ›Mörder, Kinderschänder, Dealer, Bankräuber.‹ Es klang wie ein endgültiges, umfassendes, unwiderrufliches Verdikt. Als sei damit alles über den Mann hinter der Tür gesagt. Und die Wörter klangen wie Namen für Arten von Menschen . Das ist es, was ich meine: Da wird ein Mensch für eine bestimmte Tat bestraft, und das Gefängnis ist diese Strafe. Er ist jetzt in einer totalen Institution, die sein ganzes Leben regelt. Das führt dazu, daß man vergißt, daß er auch ein Leben, eine Identität hat, die nicht auf diese Tat reduziert werden kann. Diese Reduktion, könnte man sagen, ist die Vernichtung. Alles, was mit ihm geschieht, geschieht im Schatten dieser Tat, er hat keine Möglichkeit, sich außerhalb dieses Schattens, außerhalb dieser Schuld, als Person zur Geltung zu bringen. Wenn man die Strafe so anlegt, daß es zu dieser Vernichtung kommt, ist es eine Strafe, die dem Häftling die Würde nimmt.
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