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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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rekapitulieren: Episode für Episode, Verbot für Verbot, Redewendung für Redewendung, Gefühlsklischee für Gefühlsklischee. Auch in diesem Sinn wird ihr Satz gelten: »Das ist eine Abrechnung, Torvald.« Die Aufgabe wird sein, sowohl im inneren Ertasten als auch im probeweisen Handeln herauszufinden, was sie denkt und empfindet, wenn alle Einflüsterungen zur Ruhe gekommen sind. Und dann wird es darum gehen, sich dieses Denken, Erleben und Tun in artikulierter und nachdrücklicher Weise zu eigen zu machen: es sich anzueignen und im Inneren zu einer stimmigen seelischen Identität zu verknüpfen.
    Nora wird suchen, was ihr diejenigen, für die sie wie eine Puppe war, verbaut haben: Echtheit . Das ist ein Wort, das uns leicht über die Lippen fließt. Doch was ist das eigentlich: echt sein? Was macht die Echtheit eines Denkens, Erlebens und Tuns aus? Was sind die Kontraste?
    Jemand kann sich um seine Echtheit betrügen, indem er sich verstellt . Was er sagt und tut, geschieht um eines Ziels willen, als bloßes Mittel zum Zweck. Etwa, um einem künftigen Arbeitgeber zu gefallen. Oder dem Lehrer. Oder der Frau, die ihn anzieht. Was man zeigt, ist künstlich, eine zweckmäßige Fassade, die in sich zusammenfällt, wenn man mit sich allein ist und die Entfremdung spürt, die das alles bedeutet. Tückisch ist die Entfremdung, wenn man sie nicht mehr spürt: wenn die Verstellung so weit nach innen gesickert ist, daß sie als solche nicht mehr erkennbar ist. Nun hält man sich für einen, der tatsächlich glaubt und fühlt, was er sagt. Man kann sich das bei einem Redenschreiber vorstellen, der einem Politiker die Vorlagen liefert. Er lernt, wie der Mann denkt, fühlt und spricht, und nun liefert er ihm die Sätze. Mit der Zeit dann werden es auch seine eigenen Sätze: Sie kommen ihm ohne Zögern auch beim Essen über die Lippen, im Urlaub, im Bett.
    So ist es bei Nora nicht. Das Puppenkind, das die Ansichten des Vaters und später den Geschmack des Mannes nachahmte, verfolgte keinen bewußten Zweck. Es sog die Dinge auf wie durch Osmose, ohne es zu merken. Man kann deshalb auch nicht sagen, daß Noras fehlende Echtheit in einer Verstellung begründet lag: Es gab in ihr gar keine Position, von der aus sie sich zu einer Verstellung entschließen konnte. Die Unechtheit ihres Lebens bestand darin, daß dieses Leben von Anfang an keinen eigenen Atem hatte. Es war ein Leben, in dem sie ständig törichte Sätze wie diesen hörte: »Fast alle früh verdorbenen Menschen hatten verlogene Mütter.« Und Floskeln wie diese: »Ist sie nicht eine Schönheit? Das war auch die einhellige Meinung auf dem Ball. Leider ist sie schrecklich eigensinnig – das süße kleine Ding.« Und es war ein Leben, in dem Nora sich durch Sätze wie diesen selbst erstickte: »Niemand hat einen so guten Geschmack wie du.«
    Wenn jemand eine quälende Unechtheit abzuschütteln und zu seiner eigenen Stimme zu finden versucht, kann das die Wucht und Heftigkeit eines Ausbruchs haben. Wir sehen jemanden, bei dem sich eine Wut, eine Begierde, eine Sehnsucht oder eine Angst Bahn bricht, die wir in ihm nie vermutet hätten, und wir denken: Jetzt ist er ganz echt, ganz bei sich selbst. Der Redenschreiber wird vielleicht eines Tages alles verbrennen und Pamphlete gegen denjenigen verfassen, dessen Sprachrohr er lange war. Und Nora, süßes Kind und bewundernde Ehefrau, steht auf und geht, konventionelle Moral hin oder her. Doch die pure Wucht der Auflehnung ist nicht schon das Kriterium der Echtheit. Auch sie kann eine Kopie sein, übernommen aus einem Film oder einem Roman. Und auch an sanfterer Spontaneität erkennt man Echtheit nicht ohne weiteres. Es gibt blitzschnelle entfremdete Reflexe, blitzschnelle Muster der Verstellung.
    Echtheit hat weniger mit kausaler Wucht als mit innerer Stimmigkeit einer Person zu tun. Eine politische Überzeugung von jemandem werden wir dann als echt empfinden, wenn sie zum Stil dieses Lebens paßt, und wir werden mißtrauisch, wenn sie wie ein Fremdkörper wirkt. Ähnlich beurteilen wir die Echtheit von Gefühlen: Kann diese Trauer echt sein nach all dem Groll? Wie paßt diese Bewunderung zu den vielen verächtlichen Bemerkungen? Manchmal möchte man sagen: Echt sein – das heißt, sich so zu zeigen, wie man ist. Doch die Einfachheit der Formel ist trügerisch, denn das gibt es nicht: eine glatte, bruchlose Innenwelt, die man nur nach außen wenden müßte. Unser Erleben, Denken und Wollen ist zu jeder Zeit voller Unklarheiten

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