Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
ich die Person bin, die ich bin.
Ist das nicht genug? Warum kann es scheinen, als gäbe es dahinter noch eine andere, tiefere Frage nach dem Sinn des Lebens? Es hat mit einer Veränderung des Blickwinkels zu tun. Wir können den Blick über einzelne Handlungen und Lebensabschnitte hinaus erweitern und unser Leben insgesamt betrachten. Und nun kann die Frage entstehen, was denn das Ganze soll. Jetzt betrachten wir das Leben nicht mehr aus der Perspektive desjenigen, der es vollzieht, sondern von außen: Was hat das Leben dieses Sprachliebhabers oder dieses hingebungsvollen Arztes objektiv gesehen für einen Sinn?
Zur Logik dieser Frage gehört, daß kein Hinweis auf gesetzte Ziele, innere Befriedigung oder subjektive Wichtigkeit eine Antwort sein kann. Die Frage scheint unabweisbar, und doch sieht man keine Richtung, aus der eine Antwort kommen könnte. Beides zusammen macht sie verwirrend. Ein Weg aus der Verwirrung könnte sein: Man zeigt, daß die Frage, dem ersten Anschein zum Trotz, keinen echten gedanklichen Gehalt hat, so daß es nicht verwundert und nichts macht, daß sich keine Antwort findet.
Könnte der objektive Sinn eines Lebens in einem Zweck bestehen, der diesem Leben äußerlich wäre? Nehmen wir an, wir kennten diesen Zweck nicht, man sagte uns nur, daß es ihn gibt. Das würde uns nichts nützen, denn wir müßten nun glauben, daß unser Leben einen Sinn hat, ohne daß wir die geringste Ahnung hätten, welchen. Von der Erfahrung her wäre das nicht zu unterscheiden von der Situation, daß das Leben keinen objektiven Sinn hat. Nehmen wir dagegen an, wir kennten jenen Zweck. Entweder hätte er nichts mit den Zwecken zu tun, wie wir sie aus der inneren Sicht auf unser Leben kennen. Verstünden wir ihn dann überhaupt? Und was könnte es heißen, daß unser Leben einen Sinn hat, weil es eine Episode auf dem Weg zum großen, uns vollständig fremden Zweck ist? Oder jener große Zweck hätte durchaus etwas mit unseren menschlichen Zwecken zu tun. Dann nützte er für den Sinn etwas, aber nicht deshalb, weil er ein äußerer, objektiver Zweck wäre, sondern weil er von innen her gesehen ein Zweck für uns sein könnte.
Es könnte also sein, daß die Idee eines objektiven Sinns einer Prüfung nicht standhält: daß sie in sich nicht stimmig und somit gar keine Idee ist, sondern eine rhetorische Figur ohne gedanklichen Gehalt. Das hieße, daß wir wieder da angekommen sind, von wo wir ausgingen: beim Ziel einzelner Handlungen und der Wichtigkeit, die Lebensvollzüge in sich bergen. Sinn, müßten wir nun sagen, ist etwas, was wir selbst erfinden , und nicht etwas, was wir vorfinden . Dafür spricht die Beobachtung, daß uns der Sinn unseres Lebens so lange nicht problematisch erscheint, als wir in der Obhut von Plänen leben, mit denen wir identifiziert sind. Die Frage nach dem Sinn wirkt in solchen Zeiten künstlich und griesgrämig. Bedrängend wird sie, wenn ein bisheriger Entwurf scheitert oder zu Ende geht. Doch dann nützt es nichts, nach einem großen, übergreifenden Sinn zu fragen, der sich nicht in unserer Erfahrung verankern läßt. Das einzige, was hilft, ist, neue Dinge zu erfinden, die uns wichtig sind. Auch hier bedeutet Würde Selbständigkeit: die Fähigkeit, selbst darüber zu bestimmen, was für uns als wichtig und lebensbestimmend gelten soll.
Die eigene Stimme
In seinem Theaterstück Ein Puppenheim beschreibt Henrik Ibsen den Aufbruch einer Frau, die sich auf den Weg macht, zu ihrer eigenen Stimme zu finden. Nora Helmer wird von ihrem Mann Torvald wie eine süße Puppe behandelt, die er mit lauter kitschigen Koseworten überschüttet. In keinem Moment nimmt er sie als selbständige Person ernst. Es hat nie eine wirkliche Begegnung stattgefunden. Und so war es in ihrem Leben immer schon gewesen. »Als ich noch bei Papa war, verkündete er mir seine Ansichten, also hatte ich dieselben Ansichten. Er nannte mich sein Puppenkind und spielte mit mir, wie ich mit meinen Puppen spielte. Aus Papas Händen kam ich in deine. Du hattest alles nach deinem Geschmack eingerichtet, also bekam ich denselben Geschmack. Wenn ich jetzt zurückblicke, ist mir, als hätte ich hier gelebt wie ein Bettler – von der Hand in den Mund. Unser Heim war nichts anderes als ein Spielzimmer. Ich war deine Puppenfrau, so wie ich früher Papas Puppenkind war. Und die Kinder wiederum waren meine Puppen. Ich fand es lustig, wenn du mit mir spieltest, und sie fanden es lustig, wenn ich mit ihnen spielte. Das war
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