Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
und Ambivalenzen, und nicht selten sind wir unsicher, ob das eine mehr zu uns gehört als das andere. Wir leben viele Leben, je nachdem, mit wem wir sie leben.
Noch vertrackter kann die Frage der Echtheit erscheinen, wenn man die Rolle betrachtet, die das Selbstbild dabei spielt. Gedanken, Gefühle und Handlungen können von einem Selbstbild veranlaßt oder gar erzwungen sein, etwa von einem christlichen Glauben. Sie passen zum Selbstbild und kommen mir in diesem Sinne echt vor. Was von diesem Selbstbild abweicht, gilt mir als entfremdet und unecht. Um mich der Echtheit zu versichern, trete ich in ein Kloster ein. Doch dann verliere ich meinen Glauben. Es kann ein schleichender Prozeß der Erosion sein oder eine plötzliche, wilde Auflehnung angesichts des Leids in der Welt. Ich verwerfe das bisherige Selbstbild mit dem Gefühl, daß es mir den Weg zu einem Leben verstellt hat, das viel echter hätte sein können, viel näher an meinen eigentlichen Empfindungen. Die Tür des Klosters schließt sich hinter mir, und ich trete hinaus auf den heißen, staubigen Platz des Lebens. Was ist es, was die umwälzenden Triebkräfte als echt erscheinen läßt und die Herrschaft des Selbstbilds als Quelle der Unechtheit? Was ist nun der Maßstab der Echtheit?
Der Weg, den Nora vor sich hat, wird in ein inneres Geschehen hineinführen, das auf ähnliche Weise unübersichtlich ist. »Ich muß Erfahrungen machen«, sagt sie. Es werden Erfahrungen sein, die ihr die Welt jenseits des bürgerlichen Elternhauses und der Bank ihres Mannes zeigen. Die Welt jenseits von Maskenbällen. Doch was auf dem Weg zur eigenen Stimme zählen wird, ist nicht nur, was ihr aus der neuen Welt entgegenkommt. Worauf es vor allem ankommt, ist, daß sie sich in ihren Empfindungen verstehen lernt, die darauf antworten. Daß sie sie gelten läßt, wie sie sind, ohne sich um die Gewohnheiten, Klischees und Phrasen zu kümmern, die ihr ein echtes Erleben bisher verstellt haben. Sie wird sich das innere Recht erstreiten, die Kinder zurückzulassen und wird dabei bemerken, wie die Stimme von Pastor Hansen immer mehr an Macht verliert. Sie wird zum ersten Mal Selbstbilder ausprobieren, die niemand für sie erfunden hat. Sie wird sich darin verlaufen und verirren. Und wie jeder andere wird sie von Zeit zu Zeit unsicher werden, ob sie in dem, was sie tut und empfindet, wirklich echt ist. Ob sie wirklich das gefunden hat, was ihr wichtig ist. Indem sie sich darum kümmert, nimmt sie ihre Pflichten gegen sich selbst wahr, von denen sie spricht. Sie machen ihre Würde aus.
Gleichmut als Sinn für die Proportionen
Aus einer bedeutungslosen Kleinigkeit kann eine Tragödie werden. Davon handelt Gottfried Kellers Erzählung Romeo und Julia auf dem Dorfe . Zwei Bauern, Manz und Marti, bebauen ihre Äcker, die durch ein Stück brachen Landes getrennt sind. Lange Zeit respektieren die beiden die Grenze zum brachen Land. Doch eines Tages beginnen sie, mit ihren Pflügen Furchen auch in den herrenlosen Acker hineinzuschneiden. Marti geht weiter als Manz: Er fährt schräg in den Acker hinein und schneidet für sich ein Dreieck ab. Dann wird der herrenlose Acker versteigert und Manz zugeschlagen. »Ich habe bemerkt«, sagt er zu Marti, »daß du neulich noch am untern Ende dieses Ackers, der jetzt mir gehört, schräg hineingefahren bist und ein gutes Dreieck abgeschnitten hast. Du wirst wohl einsehen, daß ich eine solche ungehörige Einkrümmung nicht brauchen noch dulden kann, und wirst nichts dagegen haben, wenn ich den Strich wieder grad mache! Streit wird das nicht abgeben sollen!« »Ich sehe auch nicht, wo der Streit herkommen soll!«, erwidert Marti. »Ich denke, du hast den Acker gekauft, wie er da ist, wir haben ihn alle gemeinschaftlich besehen, und er hat sich seit einer Stunde nicht um ein Haar verändert!« Damit nimmt das Drama seinen Lauf. Manz zieht als Grenzscheide einen geraden Strich, mit dem er sich das strittige Dreieck zuschlägt, und lädt an der Stelle, die Marti für sich bereits umgepflügt hatte, alle Steine ab, die er aus dem brachen Acker entfernt. Marti, wutentbrannt, holt den Gemeindeammann, um das strittige Fleckchen Land in Beschlag nehmen zu lassen. »Von diesem Tage an«, schreibt Keller, »lagen die zwei Bauern im Prozeß miteinander und ruhten nicht, ehe sie beide zugrunde gerichtet waren.« Beide verarmen und verwahrlosen sie, und ihre Kinder, die sich ineinander verlieben, suchen den gemeinsamen Tod, weil sie wegen des Streits
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