Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
unsere Ehe, Torvald.«
Einmal in den acht Jahren dieser Ehe war es anders. Da tat Nora etwas, was sie ganz allein entschied. Torvald wurde schwer krank, und vom Arzt wurde ein Aufenthalt im Süden verordnet. Nora empfand es als das Wichtigste, was zwischen ihnen geschehen war, und die Einsicht in diese Wichtigkeit befreite sie für einen Moment aus dem Puppenheim. Sie erklärte ihrem Mann, daß sie das Geld für die Reise von ihrem Vater bekommen könne. In Wirklichkeit lieh sie es von einem Winkeladvokaten mit dunkler Vergangenheit. Er verlangte einen Schuldschein mit der Unterschrift von Noras Vater. Da tat Nora etwas, wofür sie ganz allein einstand: Sie fälschte die Unterschrift auf dem Schuldschein. Der Schritt in ihr eigenes Leben begann mit einem Rechtsbruch. Es war der erste verzweifelte Versuch, mit einer eigenen Stimme zu sprechen. Er machte sie nicht frei, sondern erpreßbar. Und er konnte zwischen ihr und Torvald nichts verändern, denn er geschah im verborgenen. Trotzdem setzte dieser erste Befreiungsschritt eine Energie frei, die Jahre später zu einer Explosion führte. Der Advokat, enttäuscht über einen mißlungenen Erpressungsversuch, enthüllt Torvald Noras einstige Verfehlung. An Torvalds selbstgerechter Reaktion erkennt Nora, daß er nichts von ihren Motiven und ihrem Schritt in die Selbständigkeit verstanden hat und daß er ein Mann ist, der ihre eigene Stimme auch sonst nie würde erkennen können.
»Setz dich«, sagt sie zu ihm. »Es dauert lange. Ich habe dir viel zu sagen. Das ist eine Abrechnung, Torvald.« Und dann rechnet sie ihm ihre Versklavung vor, die darin bestanden hatte, daß er ihr nie die Gelegenheit zu einer Begegnung gegeben hatte, in der sie sich mit einer eigenen Stimme hätte zur Geltung bringen können. »Acht Jahre sind wir verheiratet. Fällt dir nicht auf, daß wir beide zum ersten Mal ernst miteinander sprechen?« »Ernst – was heißt das?«, fragt Torvald, und man könnte sein Unverständnis, was das Bedürfnis nach einer eigenen Stimme anlangt, nicht besser ausdrücken als durch diese vier Worte. Nora erklärt, daß sie ihn und die Kinder noch an diesem Abend verlassen werde. »Du verrätst deine heiligsten Pflichten!«, ruft Torvald aus. »Ich habe auch andere heilige Pflichten. Pflichten gegen mich selbst«, erwidert Nora. »Ich weiß, die Mehrheit gibt dir recht, Torvald, so steht es in den Büchern. Aber ich begnüge mich nicht mehr mit dem, was die Mehrheit sagt und was in den Büchern steht. Ich muß selbst über die Dinge nachdenken und sie verstehen.« »Ein Moralgefühl hast du doch?« »Ach, Torvald, das ist schwer zu sagen. Ich weiß nicht. Ich bin ganz durcheinander.«
In der Verwirrung, von der Nora spricht, drückt sich ihre Würde aus: ihr Bedürfnis, sich die Dinge ihres Lebens selbständig zurechtzulegen. Wie sieht der Weg aus, den sie vor sich hat?
Zum Teil wird es der Weg sein, den ich im ersten Kapitel beschrieben habe, als von innerer Selbständigkeit die Rede war. »Ich muß Erfahrungen machen«, sagt Nora. »Ich muß mich selbst erziehen.« Dazu wird gehören, sich im eigenen Denken zu orientieren und sich in den entscheidenden Dingen eine eigene Meinung zu bilden. »Ich will wissen, ob das, was Pastor Hansen gesagt hat, richtig ist, wenigstens für mich.« Durch solch selbständiges Denken wird sie künftig mit größerer Klarheit und Entschiedenheit auf ihr Wollen und Tun Einfluß nehmen. Sie wird zu einer Frau mit einem freien Willen werden. Ihre Autorität im Umgang mit ihren Affekten wird wachsen. Und sie wird ihr bisheriges Selbstbild kritisch zu befragen lernen, diejenige innere Instanz, die festlegt, was am Leben gelebt werden darf und was nicht. Sie wird erkennen, wieviel von diesem Bild auf verinnerlichte Autoritäten zurückgeht, und sie wird diesen fremden Autoritäten ihre eigene entgegensetzen. Das wird ihr eine neue Zukunft des Erlebens und Tuns öffnen.
All das wird einen Prozeß der Selbsterkenntnis und der Aneignung bedeuten. Nora wird sich vergegenwärtigen, wie es ihr als Puppe ihres Vaters ergangen war: mit wie vielen Röckchen, Gewohnheiten, Verboten, Gefühlen und Worten er sie eingekleidet hatte. In welchem Ausmaß sie gemeint hatte, dem Vater gefallen zu müssen. Zum Teil wird sie die Entfremdung auch heute noch von innen spüren, zum Teil wird sie sie erschließen, wenn sie betrachtet, was sie getan hatte. Und wenn sie Helmers Haus verlassen hat, wird sie damit beginnen, die Entfremdung in ihrer Ehe zu
Weitere Kostenlose Bücher