Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
mitdrückt, als sein Peiniger erwürgt wird: daß die Welt so aus den Fugen geraten kann, daß von einem moralischen Sollen überhaupt nicht mehr die Rede sein kann. Und also auch nicht von Würde. Das Aussetzen des Würdeschutzes, von dem Sarah spricht, ist etwas vollkommen anderes: Es ist eine Würdeverletzung aus zutiefst moralischen Motiven. Wir bleiben also innerhalb des Rahmens moralischer Bewertung. Sophie und Frister sprechen von einer Wüste, in der ein solcher Rahmen nicht einmal mehr in den Umrissen zu erkennen ist.
»Die Frage«, sagt Bernhard Winter, »wäre dann: Wann ist eine Katastrophe groß genug, um den strikten Schutz der fremden Würde außer Kraft zu setzen – aus Gründen des überwältigenden Leids und der eigenen moralischen Würde? Oder anders: Wie groß muß die moralische Not desjenigen sein, der die Barriere überspringt? Reicht ein einziges entführtes Kind? Oder muß es um viele Opfer gehen wie beim Flugzeug oder dem Atomkraftwerk? Und: Wer entscheidet darüber?«
» Wir entscheiden darüber, die Mitglieder einer Gesellschaft. Wer sonst? Natürlich können wir nicht alle vorher gefragt werden und darüber abstimmen. Unsere Stimme wird naturgemäß erst im nachhinein gehört werden können. Aber es werden sich öffentliche Urteile herausbilden, die fortwirken und als spätere Bezugspunkte zur Verfügung stehen. Außerdem wird es die Urteile der Richter geben. Und wenn ich sage: wir , dann meine ich nicht das Wir des Stammtischs, sondern das Wir einer breiten öffentlichen Diskussion, in der jede tatsächliche und jede vorgestellte Würdeverletzung unter das heftige Feuer der nachdenklichsten und klügsten Leute kommen wird. Die Grenzen für Würdeverletzungen aus moralischer Not – sie müssen so eng gezogen werden wie möglich.«
»Und was ist mit den strikten gesetzlichen Vorgaben der Verfassung? Sie kennen keine Ausnahmen. Der erste Satz des Grundgesetzes steht außerdem unter der Ewigkeitsklausel: Er darf von keinem Gesetzgeber verändert oder abgeschafft werden.«
»Das kann auch nicht anders sein. Ein solcher Satz definiert eine ganze Sichtweise, man könnte auch sagen: eine Weltanschauung. Als Reaktion auf eine Herrschaft des Schreckens und der Würdelosigkeit. Es wäre absurd, in einem solchen Satz Ausnahmen zu nennen. Aber die Welt kann momentan so aus den Fugen geraten, daß der Satz in seiner programmatischen Striktheit nicht mehr hilft. Dann müssen wir aus der Situation heraus selbständig darüber nachdenken, was die moralische Integrität gebietet.«
7.
Würde als Sinn für das Wichtige
Es gehört zum Leben eines Menschen, daß ihm bestimmte Dinge mehr bedeuten als andere. Das sind die Dinge, die ihm wichtig sind. Dieser Sinn für das Wichtige ist auch eine Dimension der menschlichen Würde, denn er trägt zu der Erfahrung bei, daß das eigene Leben einen Sinn hat. Sich um die Dinge zu kümmern, die einem wichtig sind, läßt ein Gefühl dafür entstehen, wer man ist und wofür man lebt. Zugleich entwickeln sich dadurch Maßstäbe für das, was insgesamt wichtig ist: Man lernt zwischen dem zu unterscheiden, was man ernst nehmen sollte, und dem, was nur eine flüchtige, vordergründige Wichtigkeit besitzt. Man entwickelt einen Sinn für die Proportionen. Und auch darin kann sich menschliche Würde ausdrücken. Doch all dies sind keine Erfahrungen aus einem Guß. Wenn man sie aus der Nähe betrachtet, können sie verwirrend erscheinen. Was gibt es darin für Elemente, und wie hängen sie zusammen?
Sinn in einem Leben
Was kann es bedeuten, in seinem Leben einen Sinn zu sehen? Leicht zu verstehen ist die Idee bei einzelnen Handlungen: Ihr Sinn ist der Beitrag zu einem Ziel. Das häufige Blättern in einem Wörterbuch hat Sinn, wenn jemand eine Sprache lernen will. Das Trainieren hat Sinn, wenn jemand einen Wettbewerb gewinnen will. Die Schritte in einer Ausbildung gewinnen ihren Sinn aus dem Berufsziel. Wir verfolgen Ziele, und diese Ziele zu kennen, heißt, den Sinn unserer Handlungen zu verstehen.
Und die Ziele selbst? Ein Ziel zu erreichen, kann ein Schritt zu einem weiteren Ziel sein. Sprachen kann man lernen, um Dolmetscher zu werden. Ingenieur kann man werden, um einen Staudamm zu bauen. Arzt kann man werden, um Leid zu bekämpfen. Irgendwann kann man kein weiteres Ziel mehr angeben. Was man dann sagt, ist: Das ist mir einfach wichtig . Und wenn jemand fragt, warum mir das wichtig ist, wird die Antwort sein: weil mein Leben so ist, wie es ist, und weil
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