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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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zwischen den Eltern nie würden zusammenleben können.
    Die beiden Bauern, könnte man sagen, haben jeden Sinn für die Proportionen verloren: Sie setzen das ganze Leben aufs Spiel, um in der winzigen Angelegenheit eines Ackerzipfels recht zu behalten. Keller findet wunderbare Worte für das, was mit ihnen geschieht: »Die Gedanken der sonst so wohlweisen Männer waren nun so kurzgeschnitten wie Häcksel; der beschränkteste Rechtssinn von der Welt erfüllte jeden von ihnen, indem keiner begreifen konnte noch wollte, wie der andere so offenbar unrechtmäßig und willkürlich den fraglichen Ackerzipfel an sich reißen könne. Jeder sah sich in seiner wunderlichen Ehre gekränkt und gab sich rückhaltlos der Leidenschaft des Streites und dem daraus erfolgenden Verfalle hin.« Manz und Marti haben die Fähigkeit verloren, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Wenn wir lesen, wie sie ihr Leben wegen einer Bagatelle ruinieren, finden wir es zunächst nur verschroben und lächerlich. Doch immer mehr bekommen wir das Gefühl, daß die beiden das Gleichgewicht ihres Lebens auf eine Weise verloren haben, die auch einen Verlust der Würde bedeutet.
    Es ist eine Erfahrung, die niemandem ganz fremd ist. Es ist leicht, sich wegen einer Kleinigkeit in tiefe Feindschaft mit einem Nachbarn zu verstricken. Es fängt harmlos an, beide verpassen die nötige Geste der Großzügigkeit, und dann gibt es kein Zurück mehr. Mit einemmal scheint das halbe Leben auf dem Spiel zu stehen. Aber es muß nicht um Streit gehen. Auch Leute, die eines Streiks wegen eine Nacht auf dem Flughafen verbringen müssen, können sich in eine Aufregung hineinsteigern, die über das Lächerliche hinausgeht und an die Würde rührt. Oder man verliert die Fassung, weil die teure Uhr kaputtgegangen ist. Oder man schläft wegen eines Kratzers am neuen Auto nächtelang nicht. Immer bringt uns eine Kleinigkeit in einer Weise aus dem Gleichgewicht, wie es nicht geschehen dürfte. Und immer werden wir im Rückblick sagen: »Ich habe damals völlig den Sinn für die Proportionen verloren.« Es ist uns peinlich, denn die Würde im Sinne der Selbstachtung ist in Gefahr geraten.
    Doch die Dinge können komplizierter liegen, als die Formel vom Verlust der Proportionen nahelegt. Es muß nicht so sein, daß wir vergessen , was wichtig ist, und das Wichtige mit dem Unwichtigen verwechseln. Es kann auch sein, daß wir uns an die unwichtige Kleinigkeit klammern, weil sie für etwas Wichtiges steht , ohne daß wir es erkennen. Für Manz und Marti, könnte man sagen, stehen mit dem lächerlichen Ackerzipfel Gerechtigkeit, Selbstbehauptung und gegenseitiger Respekt auf dem Spiel. Für den tobenden Reisenden im nächtlichen Flughafen könnte es um schmerzhafte Erfahrungen der Ungeborgenheit gehen, die aus der Vergangenheit nach ihm greifen. Und wer weiß, was mit der kaputten Uhr sonst noch kaputtgegangen ist. Wenn diese Dinge nicht insgeheim für etwas Wichtiges stünden, brächten sie uns nicht derart aus der Fassung. Die gefährdete Würde zu retten, könnte dann bedeuten, das Wichtige hinter der Kleinigkeit zu erkennen und die Kleinigkeit selbst loszulassen. »Gut«, könnte Manz zu Marti sagen, »dann behalte den miesen Zipfel. Aber bilde dir bloß nicht ein, daß du mich übertölpelt hast.« Und wer auf die kaputte Uhr blickt, könnte sagen: »Na ja, es paßt, aber daran hat’s ja nun wirklich nicht gelegen.« Dadurch wird der Verlust der Proportionen aufgehoben, die Gefahr für die Würde ist gebannt. Sie war dadurch in Gefahr geraten, daß wir uns in den stellvertretenden Fetisch verbissen hatten.
    Das Bedürfnis, sich einen Sinn für die Proportionen zu bewahren, ist jedoch nicht auf das beschränkt, was am eigenen Leben wichtig ist. Es kann uns auch darum gehen, das Ganze nicht aus dem Auge zu verlieren – all die Dinge, die in der Welt sonst noch geschehen. Verbissen in einen kleinlichen Streit oder in den läppischen Ärger über das zerkratzte Auto stellen wir die Nachrichtensendung an und sehen: Überschwemmungen, Kriege, Armut. Ein Gefühl der Beschämung kann uns überkommen: Wie konnten wir die eigenen Nichtigkeiten so wichtig nehmen! Es ist keine moralische Empfindung – unsere Kleinlichkeit ist nicht schuld an dem gezeigten Unglück. Auch muß die Beschämung nichts mit dem Blick der anderen zu tun haben; wir können sie ganz für uns allein empfinden. Wir gehen nachher anders zum Kühlschrank als vorher. Doch wie anders?
    Auf meinem

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