Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
Vom Netzwerk:
Schreibtisch in der Universität stand eine Photographie. Sie zeigte den Kopf eines leidenden Afrikaners, dem die Tränen über das geschundene Gesicht liefen. Das Bild erinnerte an all die Dinge, die einen Menschen bedrängen können: Hitze und Staub, Wunden und Schmerz, Verlust und Enttäuschung, Trauer und Tod. Es ließ einen darüber nachdenken, wie es ist, in Hitze und Staub mit leerem Magen den Tag zu überstehen. Was es bedeutet, durch Klima, Armut und Krankheit auf den Körper reduziert zu werden, ohne die Chance, ein Buch zu lesen, ein Konzert zu hören, mit interessanten Leuten zu reden. Wie unendlich schwer es sein muß, unter solchen Bedingungen ein Leben in Würde zu führen. Immer wenn ich das Bild betrachtete, dachte ich: Man müßte die Sprache neu erfinden, um dieses Leid angemessen in Worte fassen zu können.
    Das Bild hatte die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß ich den Sinn für die Proportionen in der kleinlichen Hitze der alltäglichen Gefechte nicht verlöre. Als ich es hinstellte, war ich sicher zu wissen, was ich im Sinn hatte. Doch dann kamen Besucher, die hartnäckige Fragen stellten.
    »Sie kommen aus einer Sitzung verärgert ins Büro: Man hat Sie beleidigt und Ihnen Steine in den Weg gelegt. Was hilft es, wenn Sie das Bild betrachten? Was genau hilft es? Das Bild kann ja den Ärger und seinen Anlaß nicht einfach auslöschen , nicht wahr?«
    »Nein, natürlich nicht. Aber es hilft mir, eine innere Distanz dazu aufzubauen.«
    »Worin besteht sie? In einer Abschwächung des hitzigen Gefühls?«
    »Nein, um Beruhigung geht es nicht. Schon der bloße Gedanke ist abstoßend: fremdes Leid als Beruhigungsmittel.«
    »Gut, aber was ist es dann, was mit Ihnen geschieht?«
    »Eine momentane Verengung des Geistes wird aufgehoben. Der Ärger hatte mich so sehr im Griff, daß es mir vorkam, als sei sein Anlaß das einzig Wichtige auf der Welt. Meine Gedanken und Gefühle, würde Gottfried Keller sagen, waren nun so kurz geschnitten wie Häcksel. Es geht also nicht um die Beruhigung des Geistes, sondern seine Weitung.«
    »Sprechen Sie von Ablenkung ? Davon, daß der Anblick des Leids Sie von Ihrem Ärger ablenkt? Daß Sie dadurch, wie wir zu sagen pflegen, auf andere Gedanken kommen?«
    »Nein, das ist es auch nicht, was ich meine. Das Bild soll mich nicht dazu verführen, dem Ärger auszuweichen . Es soll mich dazu bringen, ihn zu durchleben, ohne von ihm verschluckt zu werden. Ohne zu vergessen, daß er, wenn man das Ganze betrachtet, eine Episode ohne großes Gewicht ist. Das ist die innere Distanz, von der ich spreche. Sie ist es, die mit Würde zu tun hat.«
    »Aber wie sollen wir uns diese Distanz vorstellen? Ist nicht jede konzentrierte Tätigkeit und jedes echte Gefühl notwendigerweise mit einer inneren Identifikation verbunden? Und also mit fehlender Distanz? Würde das Ideal, von dem Sie sprechen, nicht bedeuten, daß wir das Leben gar nicht richtig lebten , sondern nur an uns vorbeiziehen ließen? Ist das Bild auf dem Tisch, wenn Sie es mit diesen Augen betrachten, nicht etwas, was Sie Ihrem Leben entfremdet?«
    »Das ist ein Mißverständnis. Zwar haben Sie recht mit dem, was Sie über Identifikation sagen: Wenn man sich innerlich aus allem heraushält, weil man es für unwichtig hält, vergißt man zu leben. Aber so, wie ich mir die Sache zurechtlege, gibt es zwei Arten von Identifikation. Die eine, die erwünscht und unvermeidlich ist, bedeutet einfach: ganz bei der Sache sein. Es kann eine beliebige Sache sein, auch eine Nebensache wie Fußball. Während sie spielen, sind die Spieler auf diese eine Sache konzentriert: den Ball zu spielen und zu gewinnen. Nichts anderes zählt. Kickten sie nur nachlässig vor sich hin, weil es ja ohnehin nur eine Nebensache ist – es würde nichts draus, und wir würden lachen. Entscheidend aber ist, daß sich die Spieler von dieser zweckmäßigen Identifikation nicht insgesamt überwältigen lassen, so daß das Spielen eines Balls und das Gewinnen solcher Spiele ihr Leben zu definieren beginnt. Wenn ein Spieler einen entscheidenden Elfmeter verschießt, so wird ihn das aufwühlen. Ließe es ihn völlig kalt, hätte man das Gefühl: Der ist gar nicht richtig dabei. Wenn dieser verschenkte Strafstoß ihn aber über Monate und Jahre verfolgt und sein ganzes Selbstvertrauen als Person zerstört, so spüren wir: Da ist zuviel Identifikation. Und wir würden sagen: Er hat den Sinn für die Proportionen verloren. Der Würdeverlust ist also nicht die

Weitere Kostenlose Bücher