Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Jetzt nicht, weil es ihn noch nicht gibt, und auch dann nicht, weil du ihn nicht mehr erkennst. Warum sollte der nie erlebte Blick der Nachbarn ein Grund sein, jetzt aus dem Leben zu gehen?«
»Sie werden, auch wenn ich es nicht mehr merke, den Verlust meiner Würde sehen. Das ist so, das weiß ich. Ich möchte vor niemandes Augen meine Würde verlieren, ob ich es nun merke oder nicht.«
»Weil du deine Würde so verstehst, daß der Verlust deiner Fähigkeiten sie aushöhlt. Vielleicht sehen die Nachbarn das aber anders. ›Er ist nicht mehr derselbe wie früher‹, werden sie vielleicht sagen, ›aber im Alter ändern wir uns alle und verlieren so einiges. Das ist kein Wunder: Alles in der Natur verfällt und zerfällt irgendwann. Ich finde ihn mit seinem manchmal leeren Blick immer noch nett. Manchmal denke ich: netter als früher, wo er so schnell war und immer alles besser wußte. Und wenn ich ihn still vor dem Haus sitzen sehe in seinen ordentlichen Sachen: Er strahlt eine Art Würde aus. Ich weiß nicht, sie ist vielleicht ein bißchen traurig, diese Würde, aber keiner soll mir sagen, daß dieser alte Mann, weil er nicht mehr ganz da ist, seine Würde verloren hat.‹«
» Diese Würde, Sarah – ich will sie nicht geringachten. Aber es ist nicht die Würde, auf die es mir ankommt. Es ist Würde im Sinne von: sich in die Schwäche ergeben und Haltung bewahren. Unaufgeregt. Ohne Selbstmitleid. Ohne zweite Träne. Es ist etwas Großes, wenn einer das kann, eine Reife, eine Stärke, die zu bewundern ist. Ich glaube nicht, daß ich es könnte. Doch selbst wenn: Diese Art Würde genügt mir nicht. Ich will nicht still vor dem Haus sitzen in meinen ordentlichen Sachen. Vom Pflegeheim ganz zu schweigen. Auch dann nicht, wenn du dabei bist und auf mich aufpaßt. Gerade dann nicht. Weil ich auch von dir nicht will, daß du mich so siehst, und siehst, was ich alles verloren habe. Wie ich mich selbst verloren habe. Ich will es auch deshalb nicht – jetzt nicht –, weil ich weiß, daß du mich dann anblicken würdest in dem Wissen: Das wollte er nie, daß ich ihn so sehe. Daß ich von diesem Gedanken dann nichts mehr wissen würde – das macht es nicht besser, kein bißchen. Denn ich weiß jetzt ganz genau, daß du den Gedanken denken würdest. Und vielleicht noch einen anderen: ›Er hätte es tun sollen, solange er den Verlust noch bemerkte. Nicht meinetwegen. Seinetwegen.‹ Und du hättest recht, es zu denken.«
»Denkst du es denn, wenn du jemanden siehst, der sich auf diese Weise verloren hat? Und ist es nicht grausam , es zu denken?«
»Es wäre grausam, wenn der Gedanke als ein Vorwurf gedacht würde. Als sagte man zu ihm: Du hättest längst gehen sollen. Und grausam wäre der Gedanke, wenn er als allgemeiner gedacht würde, als einer, der unterschiedslos auf jeden so Erkrankten zutrifft. All das liegt mir ganz fern. Aber ich kann mir vorstellen, es bei jemandem zu denken, von dem ich weiß – wie ich es von mir selbst weiß –, daß er nie so gesehen werden wollte, solange er sich den fremden Blick noch vorstellen konnte. Und wenn ich es bei so jemandem denke, dann ist es das Gegenteil eines grausamen Gedankens: Es ist ein mitfühlender Gedanke. Ein Gedanke, der gedacht wird, um ihn in Gedanken zu verteidigen und zu schützen.«
Sich selbst verlieren: akzeptierte Reise in die Nacht
Sarah nimmt einen neuen gedanklichen Anlauf. Es geht, wie sie früher sagte, um den unnachgiebigen Willen zu verstehen, wenn alles auf dem Spiel steht.
»Es ist nicht so, daß ich nicht verstünde, wie du empfindest. Vielleicht ginge es mir ähnlich. Trotzdem frage ich mich: Was für ein Verständnis von unserem Wert und unserer Würde fließt in dieses heftige, fast wütende Empfinden ein, das ich bei dir spüre? Was sind die verschwiegenen Voraussetzungen, solche vielleicht, die wir gar nicht bemerken?
Vielleicht können wir sie am ehesten erkennen, wenn wir uns eine ganz andere Einstellung und Sichtweise vergegenwärtigen, eine, der man in anderen Kulturen begegnet. Wir könnten sie die natürliche Sicht nennen, und sie sähe so aus: Wir sind vor allem biologische Wesen, Naturwesen , die zu ihrer Selbständigkeit, ihren Fähigkeiten und ihrem komplexen Erleben erst in einem langen, langsamen Prozeß gelangen, der vor allem auch ein biologischer Reifungsprozeß ist. Am Ende dieses Prozesses steht, was wir als unsere persönliche, seelische Identität erleben. Sie ist der Standpunkt, von dem aus du alles, was
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