Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
später als Verfall erscheint, beurteilst. Doch natürlich hängt auch diese Identität vom biologischen Geschehen in uns ab: Nichts geschieht im Geist, ohne daß etwas im Körper geschieht. Und diese Identität, die auf dem körperlichen Geschehen aufruht, verändert sich im Laufe des Lebens durch tausend kleine Veränderungen im Körper. Dann, von einem gewissen Alter an, oder auch als Folge von Krankheiten, treten weitere winzige Veränderungen ein, die es mit sich bringen, daß wir uns als Zentren des Erlebens, als Subjekte, verändern. Es sind diese Veränderungen, von denen du sagst: Die mache ich nicht mehr mit. Warum? Weil du dich durch sie im Erleben so veränderst, wie du es nicht möchtest. Weil Dinge verlorengehen. Weil es nun anders sein würde, du zu sein. Aber könnten wir es nicht auch so sehen: Es geht darum, der Natur ihren Lauf zu lassen. Sich nicht dagegen aufzulehnen, daß man ein Teil der Natur ist, der den Gesetzen von Wachstum und Verfall unterliegt. Das muß keine Mystifizierung oder Verklärung der Natur bedeuten. Es ist eine ganz nüchterne Sicht, wie auch du als Naturwissenschaftler sie akzeptieren könntest.«
»Wer es so sieht: Was denkt er über die Zeit des fortgeschrittenen Verfalls, die Zeit, in der die anderen ihn nicht mehr wiedererkennen und er selbst vergessen hat, was das ist: sich wiedererkennen? Was denkt er darüber im Sinne der Würde?«
»Ich stelle mir vor, er könnte so denken: ›Ich merke, daß ich dabei bin, mich zu verlieren. Und ich spüre: Es wird eine Reise in die Nacht, gemessen am Licht meines bisherigen Lebens. Aber ich bin bereit, die Reise anzutreten. Ich werde zusehen, daß ich den anderen möglichst wenig zur Last falle. Im übrigen werde ich von Moment zu Moment leben und die Tage nehmen, wie sie kommen. Die See riechen und in der Stille den Schnee fallen hören. Was die anderen denken? Das interessiert mich nicht mehr. Die Hauptsache ist: Ich bleibe bei mir selbst, irgendwie, auch wenn ich mich verliere.‹ Daraus spricht die Würde von einem, der zu sich als Naturwesen steht, das, wie alles in der Natur, ein Wachsen, ein Entwickeln, ein Aufblühen, aber eben auch ein Verwelken und Verfallen kennt. Unvermeidlich. Es ist die Würde von einem, der sich deswegen nicht geniert und die Blicke der anderen auf seinen Verfall nicht fürchtet. Auch deswegen nicht, weil er darauf vertraut, daß die anderen ihn nicht verachten, weil sie wissen: Das kann auch mir passieren. Zu seiner Würde, denke ich, würde auch gehören, daß er für die Zeit vorsorgt, wo es keine Selbständigkeit mehr geben wird, sondern wachsende Abhängigkeit, und wo es auch keine Begegnungen mehr geben wird, sondern nur noch Dankbarkeit für die Pflege.«
Ich stelle mir vor, daß Bernhard Winter diese andere Sicht der Dinge mit sich herumtragen und stets von neuem gegen seine eigenen Empfindungen abwägen wird. Er spürt: Da stehen sich Empfindungen gegenüber, die miteinander nicht in Einklang zu bringen sind. Auf der einen Seite der Wille, die Regie über das Leben bis zum Schluß zu behalten, auf der anderen die Bereitschaft, sich in das Schicksal des Verfalls zu fügen. Er wird sich fragen, ob man es eine Entscheidung nennen kann, wenn einer sich auf die eine oder andere Seite schlägt. Und wenn es keine Entscheidung ist – was ist es dann? Kann man sagen: Es ist einfach Ausdruck der Art und Weise, wie einer ist und gelebt hat?
Wenn Winter eines Tages dann die ersten Anzeichen des Verfalls erkennt, wird er sich fragen, wieviel ihm wert ist, was er an Gegenwart noch erleben kann. Die wissenschaftlichen Bücher liegen in der Ecke. Es gibt noch Sarah. Musik. Poesie. Den Geruch der See. Doch es wird immer weniger und immer blasser. Und so, wie wir ihn kennengelernt haben, wird er irgendwann finden: Jetzt ist es genug.
Sterben
Wenn jemand stirbt, geschehen zwei Dinge: Die körperlichen Lebensfunktionen kommen zum Stillstand, und die Person als Zentrum des Erlebens erlischt. Was bedeutet es, dafür zu sorgen, daß sich dieses doppelte Geschehen in Würde vollzieht? Was können die anderen zur Würde des Sterbenden beitragen, und was kann jemand selbst tun, damit sein Sterben in Einklang mit seiner Vorstellung von Würde steht? Was kann Würde hier überhaupt bedeuten, von innen und von außen gesehen?
Ich habe das Buch mit dem Gedanken begonnen: Die Würde eines Menschen ist seine Selbständigkeit als Subjekt, seine Fähigkeit, über sein Leben selbst zu bestimmen. Seine Würde zu
Weitere Kostenlose Bücher