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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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Sterben, daß man sich von denen verabschieden kann, ohne die das eigene Leben anders gewesen wäre. Zum Abschied wird ein Rückblick gehören: sich vergegenwärtigen, was man zusammen erlebt und bewältigt hat, was geglückt ist und was mißlungen. Es kann der Wunsch dabeisein, sich zu entschuldigen und zu versöhnen. Insgesamt ist es ein letzter Versuch, über das nun endende Leben als ein Ganzes Klarheit zu gewinnen. In diesem Punkt wird die Würde des Sterbenden auch die Würde der Wahrhaftigkeit einschließen, wie wir sie im vierten Kapitel besprochen haben.
    Auch von der Seite der anderen gehört Wahrhaftigkeit zur Möglichkeit eines würdigen Sterbens. Man muß einem Kranken reinen Wein einschenken. Das gilt auch für einen Todkranken. Man muß ihm sagen, was er hat, wieviel Zeit ihm noch bleibt, was ihm an Leiden bevorsteht, was man dagegen tun kann. Warum? Er muß sich vorbereiten können auf seinen Tod, in den äußeren Handlungen wie in der inneren Einstellung. Wenn man ihn im unklaren läßt, ist das mehr als eine empörende Bevormundung. Man stiehlt ihm nichts weniger als die Chance, mit seinem Leben abzuschließen. Es gibt Ärzte und Angehörige, die ihm die Wahrheit vorenthalten, weil sie eine panische Reaktion befürchten, eine Kurzschlußhandlung. Aber was genau ist das für ein Gedanke? Irgendwann wird es sich nicht mehr verschweigen lassen. Wenn es sich um jemanden handelt, von dem man eine heftige Reaktion erwartet, dann kommt sie jetzt. Was ist gewonnen? Würdelose Wochen, in denen man ihn jeden Morgen mit falschem Trost und verlogener Zuversicht begrüßt, während das Sterben bereits in ihm wütet? Hat man ihm damit wirklich etwas Gutes getan? Indem man ihm wertvolle Zeit gestohlen hat, um sich auf den Tod vorzubereiten? Und auch diese Frage kann man sich stellen: Wenn man nicht verhindern kann, daß sich jemand nach der Offenbarung einer tödlichen Diagnose in heller Panik das Leben nimmt: Ist das dann nicht seine Art – eine Art, die man ihm lassen muß? Wer kann sich die Autorität anmaßen, das um jeden Preis zu verhindern – auch um den Preis einer Verlogenheit, die den Kranken um seine Würde im Sinne seiner Selbständigkeit bringt?
    Gibt es auch vertretbare Lügen am Sterbebett? Solche, die die Würde des Sterbenden schützen, obwohl sie gegen das Prinzip der Wahrhaftigkeit verstoßen? Es könnten wohlmeinende Lügen über die Fähigkeiten des Sterbenden sein, über seine Leistungen, sein Ansehen, seine moralische Integrität, über Gefühle der Zuneigung und Wertschätzung, die andere ihm angeblich entgegenbringen. »Du warst ein guter Vater, ein Vorbild, wir werden dich vermissen. Und deine Kompositionen – jeder weiß, daß sie glanzvoll sind und überdauern werden.« Es wären Lügen, die ihn mit einem geschönten Selbstbild sterben ließen. Was empfinden wir, wenn wir das beobachten oder selbst an den Lügen beteiligt sind? »Er wird so ruhiger sterben können.« Das ist kein geringes Gut, nichts, was man verächtlich beiseite wischen könnte. Wenn wir den Sterbenden verlassen haben und uns draußen befragen, mögen wir zu uns sagen: »Es war schon richtig so. Wem hätte es genützt, ihm die grausame Wahrheit zu sagen?« Aber es könnte auch ein nagender Zweifel bleiben. Wir sind in diesem wichtigen Moment einer echten Begegnung ausgewichen und haben ihn nicht ernst genommen. Wir könnten das als Beschädigung unserer Integrität erleben. Aber nicht nur das: Wir könnten es auch so erleben, daß die Lügen ihn beschädigt haben. Sie haben ihn daran gehindert, am Ende mit sich ins Reine zu kommen. Das hätte zu seiner Würde gehört. Und auch wenn er diesen Verlust nicht erlebt hat – gegeben hat es ihn. Und wir sind nicht unschuldig daran, wenngleich aus edlen Motiven.

Sterben lassen
     
    Es kann geschehen, daß wir unheilbar krank werden. Was die Medizin noch tun kann, ist, den Tod hinauszuzögern und das Sterben erträglich zu machen. Unsere Würde im Sinne der Selbständigkeit verlangt, daß wir, die Kranken, selbst darüber bestimmen können, was der Arzt noch mit uns macht und was nicht. Wir haben die letzte Autorität darüber. Es kann sein, daß wir eine Entscheidung treffen, die im Lichte medizinischer Vernunft unvernünftig ist. Keine Eingriffe mehr, auch wenn sie den Tod noch einige Zeit aufhalten könnten. Keine Chemotherapie. Auch sonst keine verzögernden Medikamente mehr, nur noch lindernde. Keine künstliche Beatmung, keine künstliche Unterstützung des Herzens.

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