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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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Erinnerungen. Darunter viele glückliche.«
    »Das stimmt – für den Anfang. Aber auch sie würden mit der Zeit verblassen und am Ende ganz verschwinden. Ich würde nicht mehr weitermachen wollen, wenn ich wichtige Dinge zu vergessen begänne: prägende Stationen meines Lebens, prägende Beziehungen zu anderen, kostbare, lebensbestimmende Gefühle. Wenn Sprachen, die ich einmal konnte und durch die ich mir Teile der Welt erschlossen habe, wegrieselten. Wenn mir also meine Vergangenheit abhanden käme. Warum das so wichtig ist? Weil das differenzierte Empfinden in der Gegenwart auf all diesen Erinnerungen aufruht und anders wäre ohne sie. Ohne den Reichtum der in ihnen vibrierenden Erinnerungen sind die Empfindungen flach und langweilig.«
    »Und wenn du den Verlust nicht bemerktest?«
    »Es ist nicht so, daß diese Dinge schlagartig und ohne Rest in Vergessenheit geraten. Man bemerkt, wie das eine nach dem anderen wegbröckelt – man spürt den Verlust, man spürt ihn sehr klar. Man spürt die Lücken und Löcher im Gedächtnis. Man spürt sie als Ohnmacht, als Hilflosigkeit des mißlingenden Zugriffs, der früher so mühelos gelang. Vielleicht wird man über diese Ohnmacht so sprechen, daß man sagt: Es ist demütigend. Obwohl niemand die Ohnmacht setzt, genießt und einen den Genuß spüren läßt.«
    »Du könntest immer noch in die Zukunft hineinleben. Ihre Offenheit spüren und dich über ihre Überraschungen freuen.«
    »Der Verfall würde auch die Fähigkeit zu lernen betreffen. Und das ist, wenn du so willst, der Verlust der Zukunft. Denn eine lebendige, lebenswerte Zukunft besteht ja nicht nur darin, daß man einfach immer neue Eindrücke bekommt, die später sind als die alten. Man muß etwas mit ihnen machen . Das heißt, daß man sie zu dem, was man erlebt hat, in Beziehung setzt. In Beziehungen des Vergleichens und Verstehens. Und das ist lernen. Ausübung von Intelligenz. Ich wäre traurig, vielleicht auch verzweifelt, wenn ich feststellte: Eine neue Sprache schaffe ich nicht mehr, das Wortgedächtnis macht nicht mehr mit. Aber so etwas wäre nicht das Ende. Denn die grundlegende Fähigkeit des Lernens wäre damit nicht verloren. Das Ende käme, wenn ich spürte: Ich weiß nicht mehr, wie ich die Veränderungen um mich herum, all das Neue, zu dem, was ich weiß, in Beziehung setzen soll. Ich weiß nicht mehr, wie so etwas geht . Denn dann wäre das Neue wie eine unverstandene Lawine, die aus einer undurchsichtigen Wand hervorbricht. Es wäre unmöglich geworden, mich zu orientieren . Ich wäre, gedanklich gesehen, ein tumbes Fossil, dem die Übersicht immer mehr abhanden kommt und das nur noch taumelt. Irgendwann könnte ich mich dann nicht mehr verständlich machen . Ich fände die Worte nicht mehr und hätte dabei das Gefühl: Ich finde auch die Gedanken nicht mehr. Ich könnte nicht mehr sagen, was ich denke, fühle und will. Ich könnte mich nicht mehr zur Sprache bringen. Wie wären dann überhaupt noch Begegnungen möglich?«
    »Wir begegnen uns auch unmittelbarer: durchs Fühlen.«
    »Der Verfall, von dem ich spreche, bedeutete auch eine Verflachung des Empfindens. Ich würde merken, daß ich nicht mehr scharf und differenziert auf das reagierte, was auf mich zukäme, sondern mit lauwarmen Empfindungen, die sich immer mehr glichen. Ich meine nicht Gelassenheit, Abgeklärtheit. Das Erleben hätte keine Schärfe und Klarheit mehr, es würde ihm eine gewisse Verschwommenheit anhaften, immer mehr würde es zu einem Einheitsbrei von Empfindungen, am Anfang als Beruhigung spürbar, doch plötzlich von der Frage aufgeschreckt: Wo sind meine komplizierten Empfindungen geblieben, die doppelbödigen und ambivalenten? Sie haben mich manchmal gequält. Aber viel schlimmer ist, daß sie jetzt nicht mehr da sind und nur noch ihr Fehlen spürbar ist. Ich bin dabei, ein emotionaler Simpel zu werden, ein Einfaltspinsel in den Gefühlen. Man setzt mich in den Garten, dann aufs Sofa, ein bißchen Musik, dann gibt’s Essen. Ich bin froh, wenn man freundlich zu mir ist, und erschrocken, wenn man mich anschnauzt. Die Spielarten des Empfindens werden einfacher und weniger, die Konturen und Kontraste des Erlebens bleichen aus. Das zu merken: Das wäre das Ende.
    Ganz schlimm bei alledem wäre, daß ich das Selbstbild verlöre, das mich in den letzten Jahren bestimmt hat. Daß ich in diesem Sinne zu vergessen begänne, wer ich bin. Mich morgens mühsam besinnen müßte, was ich mit meinem Leben noch vorhabe. Daß

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