Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
ich erstaunt und verwirrt vor den Spuren früherer Unternehmungen und Pläne stünde, nicht recht wissend, was sie mit mir zu tun haben. Vielleicht auch: daß ich mich in der inneren Zensur unsicher fühlte und mich auch darin verlöre. Es müßte zu keinen Entgleisungen kommen, aber ich wüßte nicht: War ich, bin ich einer, der so etwas tut, sich so etwas erlaubt?
Und gar nicht reden wollen wir davon, daß bei einem solchen Verfall irgendwann die Kontrolle über die Körperfunktionen verlorengeht. Auch über die Ausscheidungen. Auch das möchte ich nicht erleben.
Weißt du: Ich möchte nicht auf einem Niveau weiterleben, das unter dem liegt, das ich stets zu erreichen und zu halten bemüht war. Das Niveau, das meinem Leben seinen Sinn gab. Ich möchte nicht auf eine schiefe Ebene geraten, auf der ich Niveau und Sinn ständig nach unten korrigiere, bis davon nichts mehr übrig ist. Und das nur, um das Leben, das biologische Leben, immer weiter zu verlängern. Ich möchte das nicht. Ich möchte es einfach nicht.«
»Das mußt du ja auch nicht. Wer sollte dich dazu zwingen? Aber laß uns der Sache auf den Grund gehen. Nicht, um gegen deine Einstellung zu kämpfen , sondern um sie noch besser zu verstehen . Wir sollten im Willen zu verstehen unnachgiebig sein, denn schließlich geht es ums Ganze.
Du gehst stets von der Voraussetzung aus, daß du den Verlust noch irgendwie bemerken würdest: nicht als artikulierte Erkenntnis, aber doch als Gefühl des vagen Unvermögens oder der Leere. Bei weit fortgeschrittenem Verfall ist diese Annahme unplausibel, aber für die frühen Stadien, in denen du dich verabschieden willst, mag es so sein. Doch nimm einmal an, nimm es einfach an, daß es nicht so ist: daß mit dem stillen, schleichenden Verfall immer auch ein Vergessen des Verlorenen einhergeht, ein vollständiges Vergessen, so daß das, was du noch hast, wenngleich es objektiv gesehen eine Einschränkung bedeutet, nicht als Verlust erlebt wird. Schritt für Schritt, Nuance für Nuance, verlierst du deine Fähigkeiten, von denen du gesprochen hast, und gleichzeitig verlierst du die Fähigkeit, den Verlust zu bemerken. Betrachte dich von außen und von oben, sozusagen aus der Vogelperspektive: Da gehst du, etwas langsamer und etwas tastender als früher, vieles von dem, was dich früher ausmachte, steht dir nicht mehr zur Verfügung, aber du fährst immer noch gern mit dem Bus an die See, hörst gern die Musik von früher, auch wenn du sie nicht mehr einordnen kannst, auch die Lust auf Süßes ist dir geblieben, deine Äußerungen sind einsilbig und ein bißchen verschroben, aber man mag dich oder läßt dich jedenfalls sein, wie du bist, und in den elementaren Dingen des Lebens fehlt es dir an nichts. Das will ich nicht! , wirst du ausrufen. Aber warum eigentlich nicht? Warum genau ? Denk daran: Du merkst nicht, was du verloren hast, du hast nach dieser Annahme keine Vorstellung mehr davon, wie es wäre, der zu sein, der du heute, in diesem Gespräch, bist. Was ist schlimm an dem langsam und vergeßlich gewordenen Mann, der da geht? Es kann nichts an deinem Erleben sein – das hatten wir ausgeschlossen. Das reduzierte Erleben ist, was es ist, du kennst nichts anderes mehr.«
»Ich will nicht, daß die anderen mich nun so sehen , wo sie mich als einen ganz anderen kannten. ›War einmal ein kluger Kopf‹, werden die Nachbarn sagen, ›und guck, was nun aus ihm geworden ist. Neulich hat er im Garten einen Apfel aufgelesen, und dann stand er mit dem Apfel in der Hand minutenlang da und blickte vor sich hin, als hätte er vergessen, was ein Apfel ist und was man damit macht.‹ Das will ich nicht! Ich will vorher gehen! Vorher! Es ist eine Frage meiner Würde !«
»Du willst jetzt nicht, daß sie dich einmal so sehen könnten. Wenn du schließlich vom Apfel aufblickst und die Nachbarn siehst, wie sie dich grüßen, ist es kein Problem mehr. Weil du dir ihren Blick auf dich, dem sich all das darbietet, was du verloren hast, schon lange nicht mehr vorstellen kannst.«
»Aber ich kann mir ihren zukünftigen Blick auf mich jetzt vorstellen. Und dann sehe ich die Episode mit dem Apfel so, wie sie sie sehen werden. Und ich will nicht, ich will jetzt nicht, daß ein solcher Blick jemals auf mich fällt. Jemals ! «
»Ich weiß. Aber warum eigentlich? Ein Blick, der auf uns fällt, kann doch nur gut oder schlecht sein, wenn es ein erlebter Blick ist. Doch den Blick, den du fürchtest, den Apfel-Blick, wirst du nie erleben.
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