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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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und bizarr erscheinen mag. Auch ihnen zu widersprechen, ist wichtig: Im Widerspruch liegt Anerkennung als Partner einer Auseinandersetzung. Man kann versuchen, sich solidarisch mit ihnen zu zeigen, indem man sie spüren läßt: Wir wissen, daß es auch uns treffen kann. Die Solidarität der Sterblichen. Und noch etwas ganz anderes ist wichtig im Kampf um ihre Würde: zusammen lachen und Blödsinn machen. Im gemeinsamen Lachen kann es auch dann noch zu einer wortlosen Begegnung kommen, wenn alle anderen Brücken eingestürzt sind.

Ausbruch
     
    Als ich eines Tages meine Tante im Pflegeheim besuchte, traf ich dort den Latinisten, bei dem ich studiert hatte. Er war vor wenigen Tagen eingezogen, und man konnte sehen, warum: Er war wacklig auf den Beinen, mußte sich wegen Schwindels oft festhalten, und die Hände zitterten heftig. »Es ging zu Hause nicht mehr, ich habe alles runtergeschubst«, sagte er. »Berge von Scherben. Und jetzt – ja, jetzt bin ich hier.« Es klang, als sei ihm der Mund trocken. Ich mußte weiter und schüttelte seine knochige, zitternde Hand. Wegen dieser Hand und weil er ein Mann war, der Caesar haßte und Horaz liebte, ging ich im Monat darauf wieder hin. Er war nicht mehr da. Zwei Tage nach meinem Besuch hatte man das Zimmer am Morgen leer gefunden. Er war bei Nacht und Nebel getürmt. Nach Athen. Die Schwester kannte die Adresse. Ich weiß nicht, warum: Ich fuhr hin. Einzimmerwohnung zum Hinterhof, Kochnische mit Scherben am Boden, Sprachbücher für Neugriechisch. »Es war diese eine Begebenheit«, sagte er. »Halb sechs am Nachmittag, ein heißer, heller Sommertag. Die Tür zum Nachbarzimmer stand offen, so daß ich sehen und hören konnte. Die Schwester hatte den Mann mit dem Katheter ins Bett gebracht. ›Und jetzt nehmen wir noch ein putziges weißes Kügelchen zum Schlafen‹, sagte sie. Das Wasserglas schlug gegen seine Zähne. Dann ließ sie die Jalousie herunter, bis es dunkel war. ›Warum stecken Sie einen erwachsenen Mann um diese Zeit ins Bett und betäuben ihn, damit er schläft?‹ Ich erstickte fast an meiner Wut. Sie musterte mich von oben bis unten. ›Schichtwechsel‹, sagte sie, ›ich hab’ jetzt Feierabend.‹ Da wußte ich: Hier würde ich nicht bleiben. Nicht an einem Ort, an dem man die alten und verlorenen Menschen einfach nur verwaltete . Wo die Zeit des Dienstplans die einzige Zeit war, die zählte, und wo man nicht einmal mehr daran dachte , daß jeder, der dort lebt, seine eigene Zeit lebt und beanspruchen kann, daß man sie ihm läßt. Verstehst du?« Er hatte mich früher nie geduzt. Es war ein kostbarer Moment. Später gingen wir in die Kneipe. Ab und zu mußte er sich festhalten. Er wechselte mit dem Wirt griechische Worte. »Sprachschule«, sagte er lächelnd. »Hausaufgaben.« Es gab dort andere Männer mit zitternden Händen. Hin und wieder wischte der Wirt Scherben zusammen. Es war so selbstverständlich wie das Wetter. »Hier bleibe ich jetzt«, sagte mein greiser Lehrer. »Hier, in Athen.« Ich nickte. Einige Monate später rief mich seine Schwester an. Er war von einem Bus überfahren worden. Ein Unfall. Hieß es.

Sich selbst verlieren: Auflehnung
     
    Bernhard und Sarah Winter werden alt. Die ärztlichen Untersuchungen häufen sich. Bernhard leidet unter Schwindel. Die Anfälle bleiben unerklärlich und werden zu einer bedrohlichen Begleitmelodie des Lebens.
    »Wenn der Moment gekommen ist, wo ich mich zu verlieren beginne, möchte ich sterben und werde das Nötige tun«, sagt Winter am Ende eines besonders schlechten Tages.
    »Was heißt: dich verlieren ? Was ist der Maßstab?«, fragt Sarah.
    »Der Maßstab – das sind all die Dinge, durch die ich mich definiert habe. Die meine seelische Identität ausgemacht haben.«
    »Zum Beispiel?«
    »Die Fähigkeiten der Wahrnehmung. Es gibt Verluste, die ich akzeptieren könnte. Der Verlust von Musik bei Taubheit wäre schlimm, aber sonst könnte ich mich in einer stillen Welt einrichten. Aber ich will uneingeschränkt lesen können. Blindheit wäre das Ende. Auch der Verlust von Orientierung. Wenn ich nicht mehr allein heimfände und nicht mehr wüßte, wo ich bin in Raum und Zeit. Das würde Ohnmacht bedeuten, den Verlust von Selbständigkeit, Abhängigkeit.«
    »Ich würde dir helfen, würde alles daransetzen, dir den Verlust erträglich zu machen.«
    »Einen solchen Verlust kann man nicht erträglich machen. Niemand kann das.«
    »Du hättest immer noch deine Erinnerungen. Wir hätten unsere

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