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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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achten, heißt, diese Fähigkeit zu achten. Sterben ist das Geschehen, in dessen Verlauf die Selbständigkeit eines Menschen verlorengeht. In welchem Sinn können wir über dieses Geschehen trotzdem noch selbst bestimmen? Ist es nicht widersinnig, von einem selbständigen Verlust der Selbständigkeit zu sprechen, davon, über den Verlust der Selbstbestimmung noch selbst bestimmen zu wollen? Doch widersinnig wäre es nur, wenn gemeint wäre: jeden Moment dieses Verlusts als einen zu erleben, in dem ich im vollen Besitz der Fähigkeit bin, die ich gerade verliere. Wenn also gemeint wäre: Ich kann in jedem Augenblick des Verlusts, auch dem letzten noch, meine volle Selbständigkeit ausüben. Das ist gedanklich unmöglich – ein Paradox. So kann man die Würde des Sterbens nicht verstehen. Wie dann?
    Gemeint sein kann: Jetzt, wo ich noch im Besitz meiner Selbständigkeit bin, entscheide ich darüber, wie der Verlust dieser Selbständigkeit eines Tages aussehen soll. In welchen Bahnen er verlaufen soll. Es geht um das, was wir einen natürlichen Tod nennen: kein Tod durch Unfall oder durch eine Gewalttat, wo die Plötzlichkeit des Sterbens der Frage nach seiner Würde zuvorkommt. Wie kann ein Mensch seinen natürlichen Tod gestalten wollen? Der Prozeß des Sterbens ist die letzte Episode eines Lebens – eines ganz bestimmten, individuellen Lebens. Es gehört hier zur Idee der Würde, daß diese Episode zu dem Leben, das sie abschließt, passen sollte. Anders ausgedrückt: Jeder sollte sein individuelles Sterben haben, seinen eigenen Tod. Was macht einen solchen Tod aus? Wie kann man die Individualität, die Einzigartigkeit eines Sterbens verstehen? Worin kann der individuelle Entwurf eines Lebensendes bestehen?
    Wenn man Bilder von Lazarettsälen oder großen Sälen alter Krankenhäuser sieht, in denen Menschen unter vielen anderen Menschen liegen und sterben, dann kann einem der erschreckende Gedanke kommen: Sie haben nicht nur Schmerzen, Angst und Einsamkeit auszuhalten – es ist ihnen auch ein eigenes, individuelles Sterben verwehrt. Und ein Gefühl, das diesem verwandt ist, kann einen beschleichen, wenn man einen Sterbenden in einem modernen Krankenhaus besucht, wo es nach Desinfektionsmittel riecht und die Gummisohlen auf dem Linoleum der endlosen Flure quietschen. Nachher, wieder draußen, mag man zu dem Fenster hinaufblicken, hinter dem der Kranke in einem der unzähligen Zimmer liegt, die von außen wie Betonschachteln wirken. Es gibt Gründe, gute medizinische Gründe, warum er dort stirbt. Die Apparate und Schläuche vermindern sein Leid. So betrachtet ist es richtig.
    Doch es kann einem vorkommen, als sei es in einem anderen Sinn nicht richtig. Darin nämlich, daß er dort nicht in der Umgebung und mit all den Sachen sterben kann, die die Welt seines Lebens ausgemacht haben: Möbel, Geschirr, Bilder, Photographien, Andenken, Bücher, Kleinigkeiten, die die Atmosphäre seiner Räume bestimmten, auch die Lampen mit dem gewohnten Licht. Und es ist nicht nur so, daß man denkt: All das fehlt ihm dort oben, das muß ihm weh tun. Man kann auch denken: Es geht nicht, daß ein Mensch in einem der uniformen grauweißen Zimmer sterben muß, das ihm fremd ist und ihn am Ende des Lebens von sich selbst entfremdet. Es geht aus Gründen der Würde nicht.
    »Was ist die Alternative?«, fragt meine Frau. »Ja«, sage ich, »ich weiß.« Als wir durch unser Gartentor treten, bleibe ich stehen. Ich stelle mir vor, ich hätte in den letzten Stunden meinen Koffer gepackt und stünde nun hier, um zum Sterben ins Krankenhaus zu fahren. Ich bin durch alle Räume gegangen, habe viele Dinge, schwer von Erinnerungen, ein letztes Mal in die Hand genommen. Und nun werde ich das Tor ein letztes Mal zuziehen. »Nein«, sage ich, nehme den Koffer und gehe zurück ins Haus. »Es wird dein Leben verkürzen«, sagt meine Frau. Ich nicke. »Und die Schmerzen?« »Es gibt Hausärzte, und es gibt Morphium«, sage ich. »Bist du damit einverstanden?«, frage ich. Vielleicht frage ich es auch nicht. Es gibt Fragen der Würde, die keiner Zustimmung bedürfen.
    Doch natürlich hat der eigene Tod nicht nur mit der eigenen Umgebung zu tun. Er hat auch mit den eigenen Menschen zu tun – denjenigen, die mich geprägt und die Melodie meines Lebens mitbestimmt haben. Es kann sein, daß ich sie dabeihaben möchte, wenn es zu Ende geht. Es kann auch sein, daß ich in der letzten Stunde mit mir allein sein möchte. In jedem Fall gehört zu einem würdigen

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