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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Bieri
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verschweigen, und die Angehörigen mögen ihn darin unterstützen. »Es würde ihn derart belasten – es würde alles nur noch schlimmer machen«, mögen sie sagen. »Es ist doch besser, wenn er noch einige Zeit leben kann, ohne daran denken zu müssen.« »Ihr habt mich wie ein Kind behandelt!«, werde ich sagen, wenn man es mir nicht länger verheimlichen kann. Es wird ein Groll sein, wie er sich nur einstellt, wenn die eigene Würde im Sinne der Selbständigkeit beschädigt worden ist. »Aber wir haben es doch nur gut gemeint!«, werden sie sagen und sich ob meines Grolls verletzt zeigen. »Was soll das heißen: gut gemeint? Wie kann man es mit jemandem gut meinen, wenn man ihm so wenig zutraut und ihn so wenig ernst nimmt? Ihr habt mich um etwas betrogen, was so wichtig ist wie nur weniges im Leben: die Möglichkeit, mich ganz wach und ganz selbständig mit meinem Schicksal auseinanderzusetzen und mich auf den Tod vorzubereiten, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo mich noch keine Schwäche und keine Schmerzen bedrängten. Mir diese Autorität zu stehlen! Wie konntet ihr denken, dazu ein Recht zu haben! Das ist unverzeihlich!«
    Oder könnte ich mir vorstellen zu sagen: »Zwar fühle ich mich hintergangen und bevormundet, aber irgendwie bin ich auch froh. Wenn ich’s gewußt hätte, hätte ich einiges, was mir wichtig war, nicht mehr getan. Wenn man von einem solchen Tumor weiß, setzt man sich ja nicht mehr in die Transsibirische Eisenbahn, oder?«
    Auf andere Weise problematisch ist es, wenn wir jemandem die Tabletten wegnehmen, weil wir befürchten, daß er seinem Leben ein Ende setzen will. Bei der verschwiegenen Diagnose behindern wir ihn in seinem Wissen . Jetzt behindern wir ihn in der Verwirklichung einer Absicht, in einem Tun . »Was fällt dir ein, mir das Zeug wegzunehmen! Es ist mein Leben, und darüber bestimme ganz allein ich !« »Sicher. Aber ich dachte, daß es unüberlegt wäre, unnötig und zu früh, wenn du es jetzt tätest. Daß du vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit fändest. Ich wollte dich schützen – vor dir selbst.« »Wie kannst du dir anmaßen, darüber zu befinden! Es geht nicht darum, wie du es siehst; es geht einzig und allein darum, wie ich es sehe. Über mein Leben habe ich die Autorität und niemand sonst. Ich gehe jetzt, und zwar für immer. Und wage nie wieder, dich in mein Leben einzumischen, oder in meinen Tod!«
    Und doch: Vielleicht kommt später einmal eine Karte: »Ich bin froh, daß du mir das Zeug damals weggenommen hast. Aber ich könnte nicht mehr mit dir leben. Etwas ist zerstört worden. Aus Fürsorge, ich weiß. Trotzdem. P.S. Ich habe wieder genug Tabletten zusammen, und dieses Mal wird sie mir niemand wegnehmen, niemand.«
    Noch einmal anders, und noch komplizierter, liegen die Dinge, wenn die fürsorgliche Bevormundung weltanschauliche Barrieren überwinden muß. Es gibt religiöse Gemeinschaften, für die eine Bluttransfusion eine Verfehlung darstellt, die zu Ächtung und Ausschluß führen würde. Die Eltern bringen ihr Kind in die Klinik. Es gibt keinen Zweifel: Ohne Transfusion muß das Kind sterben. Das kommt nicht in Frage, erklären die Eltern. »Blut auszutauschen – das heißt, Gott ins Handwerk zu pfuschen. Es bedeutet Verdammnis.« Es entspinnt sich ein sonderbarer Kampf widerstreitender Bevormundungen: Hier der Wunsch der Eltern, das Kind vor der Verdammnis zu schützen, dort der Wunsch des Arztes, sein Leben zu retten.
    »Wie kommen Sie dazu, es in einer solchen Sache besser wissen zu wollen?«, fragen die Eltern. »Verdammnis ist schlimmer als Tod. Das können Sie dem Kind nicht antun. Wir müssen es gegen Ihren Übergriff schützen!« Der Arzt kann mit der Idee der Verdammnis nichts anfangen und hat nur das eine vor Augen: Das Kind stirbt, wenn er sich nicht über den Willen der Eltern hinwegsetzt. Trotzdem mag er zögern. »Es ist ja schließlich ihr Kind und nicht meines, ein Teil ihres Lebens und nicht des meinen. Schafft diese biologische und psychologische Nähe, diese Lebensnähe, nicht doch für die Eltern eine Autorität gegenüber dem Schicksal des Kindes, die meiner Autorität als Arzt überlegen ist? Und bedeutet diese größere Autorität nicht, daß ich mein Urteil gegenüber dem ihren zurückstellen muß, wie sehr mir das auch zuwider ist? Schließlich geben wir Eltern diese vorrangige Autorität ja auch in Fragen der Erziehung, also Fragen von großem Gewicht. Ist, was ich vorhabe, nicht letztlich doch eine fragwürdige

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