Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Wahl zum Ausdruck bringt: lieber Tod als Ächtung. Wenn ich den Schnitt erzwinge, ist es, als sagte ich zu ihr: »Das bestimmen nicht Sie , das bestimme ich , und ich sage: lieber Ächtung als Tod.« Darf ich das? Ist das nicht ein eklatanter Verstoß gegen die Würde dieser Frau im Sinne der Selbständigkeit und Selbstbestimmung? »Ihre Ernsthaftigkeit und Ihre Echtheit in Ehren«, wird vielleicht jemand zu mir sagen, »doch hier, in diesem besonderen Fall, erfahren Sie nun in der Selbständigkeit eines anderen die Grenzen Ihres Engagements. Wenn Sie so wollen: Es steht die Würde der Frau gegen Ihre eigene Würde.«
Was soll ich tun? Etwas, was ich auf jeden Fall tun muß: herausfinden, wie eindeutig und gefestigt der Wille dieser Frau ist. Wie artikuliert ist er, wie gut kann sie ihn erläutern? Hat sie meine Erläuterung der Gefahren wirklich verstanden? Bin ich sicher, daß kein Mißverständnis im Spiel ist? Wie stimmig ist das, was sie sagt? Ist es am Ende vor allem die Operation, die sie fürchtet? Weil sie vielleicht falsche Vorstellungen davon hat? Fühlt sie sich vielleicht bedroht durch die Dramatik der Situation, durch Zeitdruck oder durch die Anwesenheit von jemandem, von dem sie abhängt und den sie fürchtet?
Den Ehemann und den Geistlichen habe ich weggeschickt. Ich lasse die Frau eine Weile allein. Ich komme zurück und sehe sie an. »Nein«, sagt sie. »Die Narbe. Sie würden mich verstoßen. Es wäre die Hölle.«
Was kann nun geschehen?
Ich erzwinge die Operation und schneide. Sie hält ein gesundes Kind in den Armen, und die Wunde verheilt gut. Doch sie redet kein Wort mit mir. Nach ein paar Tagen ändert sich das. »Ich werde ihnen die Stirn bieten. Notfalls laufe ich mit dem Kind weg. Fort aus dem Dorf, fort von ihrer Bevormundung. Ich bin froh, daß wir beide leben, das Kind und ich. Danke.«
Doch es kann auch anders kommen: Sie redet nie mehr mit mir und fährt ins Dorf. Ich fahre auch hin, heimlich und unerkannt. Sie wohnt allein im letzten Haus, es ist eher eine Hütte als ein Haus. Das Kind und sie – beide sehen aus, als hätten sie eine Hungersnot hinter sich und noch einige andere Katastrophen. Die Folgen der Ächtung sind in ihrem Gesicht zu lesen. Sie scheint ihre ganze Würde verloren zu haben. »Sie haben mich ins Unglück gestürzt«, könnte sie zu mir sagen. »Ich konnte nicht anders«, hatte ich bei der Entlassung in ihr wortloses, versiegeltes Gesicht hinein gesagt. Hatte ich mich zu sehr um mich und meine Empfindungen gekümmert, wo es doch um sie gegangen war, ganz allein um sie? Kann sich in einem Engagement auch rücksichtslose Selbstbezogenheit verbergen?
Es könnte sein, daß ich aus einer solchen Überlegung heraus nicht schneide. Das Kind stirbt, aber es gelingt mir, die Frau zu retten. Sie weint um das tote Kind und ist verzweifelt, daß sie nun nie wird Kinder haben können. Aber sie ist bei sich selbst. »Danke«, sagt sie bei der Entlassung. »Dafür, daß Sie mir das Leben gerettet haben; aber vor allem dafür, daß Sie meinen Willen respektiert haben. Es war sicher nicht leicht für Sie.« Ich besuche sie im Dorf, wo man weiß, was sie durchgemacht hat. Sie ist eine geachtete Frau, die ihr Unglück mit Würde trägt. Was sind meine Empfindungen? Ich stelle mir vor: was ihr alles erspart geblieben wäre durch die Operation; wieviel mehr sie vom Leben haben könnte. »Ich weiß«, sagt sie: »nach Ihrer Auffassung.«
Doch vielleicht reist die Frau eines Tages zu mir und stellt mich zur Rede. Es sieht in ihr inzwischen ganz anders aus. »Warum haben Sie sich nicht über meine Torheit hinweggesetzt, wo Sie doch wußten, was es für Leid bedeuten würde? Was ist das für ein sonderbarer Respekt, der Respekt vor offensichtlicher Torheit, die Leiden und Tod bedeutet? Warum haben Sie mich nicht davor bewahrt ?«
»Nun«, sage ich, »es war Ihr Wille, und der Respekt war nicht ein Respekt vor der Torheit, sondern ein Respekt vor Ihrer Fähigkeit und Ihrem Willen, über Ihr Leben selbst zu bestimmen. Darin lag in diesem Moment Ihre Würde, die es zu schützen galt. Der Respekt vor der Selbstbestimmung – das kann nicht ein Respekt mit dem Vorbehalt sein, daß der fragliche Wille identisch mit dem Willen sein muß, den auch wir, die anderen, unter diesen Umständen hätten. Wenn der Respekt nämlich unter diesem verschwiegenen Vorbehalt stünde, dann wäre es kein echter Respekt vor einem anderen Willen , und somit überhaupt kein Respekt, sondern eine
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