Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Bevormundung und damit eine Verletzung der Würde. Mein Respekt, der ein echter Respekt war, war auch von der Einsicht bestimmt und getragen, daß ich zwar überzeugt war, Sie hätten nicht den richtigen Willen und träfen nicht die richtige Entscheidung, weil sie so viel Leid bedeutete – Leid in meinen Augen. Aber ich war mir auch bewußt, daß man in dieser Sache nicht von Wissen sprechen kann: Es sind keine Tatsachen , von denen wir hier reden, die man kennen oder nicht kennen kann, wie im gewöhnlichen Fall von Wißbarem. Es geht um Bewertungen , um Auffassungen darüber, was wichtig ist, wichtiger als anderes, was weniger wichtig ist. Und worin könnte der wahre Respekt vor einem Anderen bestehen, wenn nicht darin anzuerkennen, was er für wichtig hält – mag es noch so verschieden sein von dem, was wir, die anderen, für wichtig halten? Ihre Auffassung hat sich seither geändert. Damals aber war es so, daß Sie das andere für wichtiger hielten. Was kann man anderes machen, als die Bewertungen, die im fraglichen Moment gelten, zu respektieren? Sie möchten ja auch, daß ich Ihre jetzige Bewertung respektiere, selbst wenn uns beiden klar ist, daß sich solche Bewertungen im Laufe der Zeit wandeln können.«
»Aber war Ihnen denn nicht klar, daß ich nicht wirklich frei war in meiner Bewertung? Daß ich dachte und fühlte, wie ich dachte und fühlte, weil ich in Beziehungen der Abhängigkeit lebte – von meinem Mann, von den Vorurteilen des Dorfes, vom Urteil des Geistlichen – und daß ich Angst vor diesen Dingen hatte und damals noch nicht die Möglichkeit, mich dagegen zu stellen und davon unabhängig zu machen? Sie mußten doch wissen: Die Anschauungen, auf die ich mich da stützte und berief, waren mir aufgezwungen worden – von Männern, denen es um ihre Macht und ihre Stellung ging. Und gar nicht um meine eigenen Interessen. Und wenn Sie das doch wußten: Warum haben Sie – sozusagen – nicht Partei für mich gegen mich ergriffen, indem Sie mich, weil ich es nicht selbst konnte, gegen diese Übergriffe der anderen verteidigten?«
»Gegen Ihren erklärten Willen? Wie kann man jemanden gegen seinen erklärten Willen verteidigen und schützen? Ist das nicht ein Übergriff, eine Bevormundung, die sich in jedem Fall verbietet? Weil sie die Würde verletzt?«
»Man kann von dem Wissen darüber Gebrauch machen, wie sich die Anschauungen von jemandem, die Leid hervorbringen, unter der Erfahrung ebendieses Leides verändern würden, zwangsläufig.«
»Das kann man nicht wissen, denn: Ob dieses Leid überhaupt als Leid erlebt wird, hängt eben von der Bewertung ab. Und deshalb hängt es auch von der Bewertung ab, ob die nun gemachten Erfahrungen den ganzen Rahmen der Bewertung später verändern oder sogar ganz sprengen werden. Wenn die Bewertung dazu führt, daß das Leid gar nicht als solches erlebt wird, dann findet eine solche Veränderung überhaupt nicht statt. Ein Leid, das nicht als solches erlebt wird, ist auch keines, denn Leid ist eine subjektive, ans Erleben gebundene Kategorie, keine objektive. Wenn man sich vom Erleben wegbewegt, dann verliert man das Leid als Leid, man verliert die ganze Kategorie. Ich konnte unmöglich vorhersehen, wie sich Ihr Denken und Empfinden verändern würden, wenn Sie nun im Dorf als trauernde Mutter und kinderlose Frau weiterleben müßten. Daß sich Ihre Trauer und Verzweiflung nun gegen diejenigen richten würden, die Sie mit ihren Anschauungen und Verboten versklavt hatten – nein, das konnte ich unmöglich vorhersehen. Und deshalb wäre mir das stellvertretende Handeln, an das Sie denken und dessen Ausbleiben Sie mir erbittert vorwerfen, als ein Übergriff erschienen, eine Verletzung Ihrer Selbständigkeit und damit Ihrer Würde.«
Es kann also zu Situationen kommen, in denen es einen Widerstreit zwischen unterschiedlichen Erfahrungen der Würde gibt. Es kann sein, daß ich aus Gründen der Würde zu meinen Überzeugungen stehe und sie in die Tat umsetze, auch wenn das eine Bevormundung eines anderen bedeutet, dessen Würde damit gefährdet wird. Und es kann, umgekehrt, sein, daß ich, um die Würde eines anderen im Sinne der Selbstbestimmung zu schützen, mir selbst untreu werde und meine eigene Würde im Sinne von Engagement und Echtheit gefährde. Daß es in Fragen der Würde solche Dilemmata geben kann, hängt mit etwas zusammen, von dem ich in der Einleitung gesprochen habe: Weder die Erfahrung der Würde noch die Lebensform, zu der sie gehört und
Weitere Kostenlose Bücher